Frau malt Herz auf Leinwand

Die Geschichte einer ungewöhnlichen Sucht

Vera M. verschenkte im Internet rund 80.000 Euro an wildfremde Menschen

Im Netz fühlte Vera M. sich anerkannt. Auf einer Onlineplattform, auf der niemand ihren echten Namen kannte. „Die Menschen dort zu beschenken, das gab mir ein gutes Gefühl“, sagt sie. Dafür hat Vera M. Kredite aufgenommen. Ihre Lebens- und auch die private Rentenversicherung hat sie gekündigt, ihre Eltern angelogen, um Geld zu bekommen. Nach zwei Jahren auf der Plattform ist sie hoch verschuldet und steht kurz vor einem Insolvenzverfahren: Rund 80.000 Euro gab sie aus, um Fremde zu beschenken und am Ende eines Tages auf der Unterstützerliste ganz oben zu stehen. „Man war etwas Besonderes.“

Ein Fall mit Herausforderungen

Eine solche Sucht nach Anerkennung hat Katrin Vosshage in ihrer 20-jährigen Laufbahn als Suchttherapeutin noch nicht erlebt. Ein Fall mit Herausforderungen – schon bei der Beantragung der Therapie für Vera M. „Wir mussten den Antrag mit der Diagnose exzessive Mediennutzung stellen. Das trifft anteilig zu. Aber hinter der Nutzung der Onlineplattform steht ja der Effekt des Gesehen-Werdens.“ Die Linien einer solchen Verhaltenssucht sind nicht trennscharf. „Wenn jemand zwei Liter Wodka am Tag trinkt, ist eine Abhängigkeit sehr deutlich, weil ein gesunder Alkoholkonsum laut Weltgesundheitsorganisation bei einem kleinen Glas Bier pro Tag liegt. Für Verhaltenssüchte ist das bis heute nicht eindeutig definiert“, erläutert Katrin Vosshage.

Das Beste, was mir passieren konnte

Dass Vera M. dennoch eine ambulante Therapie in der Lukas-Werk Fachambulanz Helmstedt beginnen konnte, bezeichnet sie als „das Beste, was mir passieren konnte“. Auf dem Höhepunkt ihrer Sucht verbrachte sie nach der Arbeit Stunden um Stunden und Nächte für Nächte auf der Onlineplattform. „Ich habe nicht nur Familie und Freunde, sondern auch mich selbst vernachlässigt, mich und meine Wohnung nicht mehr gepflegt. Manchmal war am Ende des Monats kein Geld mehr da, um Essen zu kaufen.“ Nachdem das aufflog, drängte ihre Schwester sie zu einer Therapie. „Ich dachte immer, ich habe das im Griff.“

Was steckt hinter dem Verhalten von Vera M.? Schale für Schale wie bei einer Zwiebel legt sie nun gemeinsam mit Therapeutin Vosshage den Kern ihrer Sucht frei. „Ich denke, bei mir hat das viel mit dem Selbstwertgefühl zu tun, wie ich mich und mein Aussehen bewerte, welche Ansprüche und Erwartungen ich an mich selbst habe.“ Dinge, die in der Anonymität der Onlineplattform keine Rolle spielten. Themen, die sie in der Gruppen- und Einzeltherapie im Lukas-Werk aufarbeitet. „Frau M. ist auf einem guten Weg“, sagt ihre Therapeutin Vosshage.

Noch nicht am Ziel, aber ein gutes Stück weiter.

Manchmal, sagt Vera M., schaue sie unter neuem Namen noch auf die Plattform. „Geld gebe ich dort nicht mehr aus. Langfristig will ich gar nicht mehr online sein.“ Im echten Leben ist sie um eine Insolvenz herumgekommen. Ihre Schwester hat eine Kontovollmacht „Das wollte ich als Selbstkontrolle.“

Sie zahlt ihre Schulden nun nach und nach ab. „Meinen Job habe ich zum Glück nicht verloren.“ Sie suche noch nach einem Hobby, das ihr Freude bereite. „Ein Mitklient aus der Gruppe brachte vor einiger Zeit Leinwände mit in die Sitzung. Vielleicht ist das etwas für mich.“

Interview mit Suchtexpertin

Wie viel Medienkonsum ist zu viel? Wie läuft eine Suchttherapie ab? Für wen bietet sich eine ambulante Therapie an? Und welche Werkzeuge für ein suchtmittelfreies Leben können Therapeut:innen ihren Klient:inne an die Hand geben? Darüber spricht Suchttherapeutin Katrin Vosshage in einem Podcast

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