Von Tatkraft und geöffneten Türen

46 Jahre lang engagierte sich Gesine Schwieger für die Menschen in Neuerkerode: Die vergangenen Wochen vor ihrem offiziellen Abschied waren für Gesine Schwieger deshalb keine einfachen. Zu den dienstlichen Übergaben mit allerlei organisatorischen Abwicklungen, kam die emotionale Verarbeitung, die in Verabschiedungen, Gesprächen und dem Erinnerungenteilen mit Kolleg:innen, Bürger:innen und Angehörigen mündete. Fast ein halbes Jahrhundert stand sie im Dienst Neuerkerodes. Das hat Spuren hinterlassen – in ihrer Biographie, in der ihrer Wegbegleiter:innen, im Wirken ihrer Arbeit sowie in zahlreichen Projekten.

Gesine Schwiegers großes Glück und gleichwohl das große Glück Neuerkerodes war es, dass sich beide in einer Zeit des Umbruchs, der Erneuerung und Tatkraft begegneten. Der erste Kontakt mit dem inklusiven Dorf entsteht im Februar 1978 bei einem Praktikum in Bethesda. Schon hier zeichnet sich ab, dass es eine Beziehung auf Dauer wird: das ursprünglich auf vier Monate angesetzte Praktikum weitet sich auf zwei Jahre aus. Nur das Studium lockt sie für einige Zeit aus Neuerkerode weg, die Rückkehr folgt schnell mit dem Ableisten des Anerkennungsjahres als Sozialpädagogin und der anschließenden Festanstellung. „Joachim Klieme (Direktor von 1972 bis 1990, Anm. d. Red.) holte viele Fachleute aus der Bundesrepublik ins Dorf, großartige Menschen, die Lust auf Veränderungen in Neuerkerode und der Eingliederungshilfe hatten und etwas bewirken wollten. Und ich war Teil davon“, erinnert sie sich gern zurück. Unter den vielen Fachleuten ist auch Dr. Christian Gaedt, der Anfang der 1980er-Jahre mit seinem Konzept „Orte zum Leben“ eine neue Tür aufstößt. Damit öffnet sich der Horizont in der Eingliederungshilfe und bietet Möglichkeiten neuer Ansätze und Projekte, die den Bürger:innen wiederum Perspektiven und Angebote eröffnen.

Erfolgreiche Konzepte am WG-Tisch entwickelt

Aus der Unterstützung für Aids-Projekte heraus entwickeln Schwieger und ihre Kolleg:innen unter dem Titel „Mein Körper und ich“ Seminare in der Erwachsenenbildung und sogar Volkshochschulkurse. „In unserer Wohngruppe waren Bürger verschiedenen Geschlechts, die zudem mit Anfang 20 noch sehr jung waren. Da haben wir gemerkt, wie wichtig es ist, an das Thema heranzugehen und Sexualitätskurse zu geben“, so Schwieger. Dabei war das Konzept so erfolgreich, dass sie sogar von Einrichtungen in der Bundesrepublik eingeladen wurden, um Seminare zu geben. Es entstehen weitere Ideen, begünstigt auch dadurch, dass Schwieger mit vier Kolleg:innen einer WG zusammenlebt. „Wir haben uns abends zusammengesetzt, gesprochen, diskutiert und neue Ideen und Konzepte entwickelt, zum Beispiel die Idee, Apartments für Bürger bereitzustellen, ein Reisebüro oder auch das Biermanski’s mit Mosaiken zu verschönern. Das war eine aufregende und erfolgreiche Zeit“, sagt sie mit einem zufriedenen Lächeln.   

Immer unterwegs: Gesine Schwieger und ihre Kolleg:innen etablierten ein "Reisebüro" und unternahmen mit den Bürger:innen verschiedene Reisen.

Ihr zweites "Zuhause" wurde für viele Jahre der Kastanienhof 5, den sie ab 2010 mit dem Wohnbereich 01 (Kastanienhof 2,4,5, Kastanienweg 7a , Kastanienweg7/8 und Mühlenhof) als Wohnbereichsleitung übernimmt. Im Januar 2022 ändert sich ihr Verantwortungsbereich noch einmal und sie übernimmt nun den neu zusammengestellten Wohnbereich 10, bestehend aus Wabeweg3/3a, Wabehaus und Mühlenhof in ihre Organisationsverantwortung. Den Schwung und die Erfahrungen aus ihrer Anfangszeit überträgt sie auf das Team. „Ich habe das Glück gehabt, dass meine Leitungen mir Vertrauen geschenkt und mich einfach haben arbeiten lassen. Es ist ausgesprochen wichtig für Mitarbeitende, eigene Ideen einbringen und umsetzen zu können. Das habe ich in meiner Zeit als Führungskraft auch so gehandhabt, dafür habe ich sehr viel Rückhalt und Wertschätzung erfahren“, sagt die 66-Jährige

Vertrauen schenken, Ideen einbringen

Zudem habe sich die Wohngruppe über Jahrzehnte einen ganz besonderen Geist bewahrt, der Eigenverantwortung, Motivation und Innovation fördere und damit die Lebensräume der Bürger:innen weiter verbessere. Das sei ein wertvolles Gut. So wichtig wie ihr der Austausch mit den Kolleg:innen war, so wichtig war ihr der Austausch mit den Bürger:innen. „Wir haben ein Plenum in den Wohnbereichen eingeführt, in dem wir gemeinsam Ideen und Wünsche gesammelt haben, Themen besprochen und Arbeitsgruppen eingeführt haben. Uns war es wichtig, die Bürger:innen so viel wie möglich in die Prozesse einzubinden“, so Schwieger. Mit den Dienst- und Bereichsbesprechungen sowie den gewachsenen organisatorischen Aufgaben als Leitungskraft fehlte ihr zuletzt öfter die Zeit, um Themen zu entwickeln oder enger ins Gespräch zu gehen.

 

 

Uns war es wichtig, die Bürger:innen so viel wie möglich in die Prozesse einzubinden


Gesine Schwieger, ehemalige Wohnbereichsleitung in Neuerkerode

Bürger:innen in die Entscheidungsprozesse einbezogen

Mit dem Wechsel in einen neuen Verantwortungsbereich entsteht nochmal ein besonderes Momentum der Innovation und Motivation. „Die hohen Belastungen von Isolation, Anspannung, Ängsten sowie der Verlust von Alltagsroutinen in der Pandemie haben allen extrem viel abverlangt“, berichtet Schwieger. Unter dem Motto ‚Was wäre möglich, wenn..‘ hätten sie und ihre Teams Phantasie als Mittel dagegen angesetzt, so Schwieger und fügt an: „So sind wir aus dem Stimmungstief gekommen und es entstanden viele neue Ideen. Damit kamen Motivation und Freude am Gestalten zurück. Hier entstand auch die Idee, Tiny Häuser für Bürger: innen im Dorf zu installieren. Wir haben uns gemeinsam auf den Weg gemacht“, blickt sie zurück. Ende Dezember 2023 hat Gesine Schwieger ihre Übergabe abgeschlossen und ihre Dienstschlüssel übergeben. Die berufliche Tür mag sich geschlossen haben, mit dem Ruhestand aber warten neue Türen darauf, geöffnet zu werden. Und natürlich sind da noch die vielen „Türen“, die sie mit ihrem Team und den Kolleg:innen für Mitarbeitende und Bürger:innen in Neuerkerode geöffnet hat ­– bis heute.

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