Neuerkeröder Blätter

Seid nicht zu stolz, Hilfe anzunehmen

– Wendepunkte –

Sucht kann jeden treffen. Bei Anton Erhart folgte sie auf einen privaten Schicksalsschlag. Inzwischen ist er seit 27 Jahren trocken. Wie bewältigte er seine Sucht und welche Rolle spielte Stolz dabei?

„Darauf bin ich stolz: Ich kann das! Und mittlerweile sogar mit einer gewissen Leichtigkeit, weil ich eine gute Grundhaltung zu mir, zum Leben entwickelt habe.“

Der Anfang

Im Jahr 1980 verliert Anton Erhart den Boden unter den Füßen. Sein bester Freund stirbt bei einem Autounfall. Der damals 16-jährige Anton trank damals gelegentlich Bier. Jetzt wird das mehr und mehr und am Ende viel zu viel. „Ich war traurig, wollte das aber nicht sein. Da war eine Leere, mit der ich nichts anzufangen wusste.“ Erst 1996 nach einer stationären Therapie in der Reha-Fachklinik Erlengrund des Lukas-Werkes schafft er den Absprung.

› Sie sind jetzt seit 27 Jahren trockener Alkoholiker – stolz?
Ja. Denn ich kann zufrieden ohne Alkohol leben. Das können viele Menschen nicht von sich behaupten. Es ist eine Leistung, die mir Energie gibt, anstatt sie mir zu rauben.

› Sie kommen seit Ihrer Therapie regelmäßig zu den Ehemaligentreffen für Patienten der Fachklinik und reisen dafür extra aus ihrem Heimatort nach Salzgitter. Warum sind Ihnen diese Treffen wichtig?
Weil an diesem Ort mein Leben eine Wende zum Guten genommen hat. Weil ich dort Menschen treffe, die so sind wie ich, die ähnliche Erfahrungen gemacht und ihre Sucht überwunden haben. Etwas Neugierde ist auch dabei: Welche Lebenswege haben ehemalige Mitpatienten

Leben mit der Sucht, Illegalität und Obdachlosigkeit

16 Jahre lang kommt Anton Erhart nicht heraus aus der Abhängigkeit. Er merkt, dass es ihm als schüchterner Jugendlicher leichter fällt, Mädchen anzusprechen, wenn ihn der Alkohol enthemmt. Von seiner Familie, seinem Ausbilder in der Werkstatt und später von seinem Meister im ersten richtigen Job darauf angesprochen, fühlt er sich ertappt. „Aber auch unverstanden. Schließlich hatten sie ja nicht ihren besten Freund verloren. Ich dachte damals: Lasst mich doch alle in Ruhe.“ Eines Morgens steuert er die Bahnhofskneipe und nicht seinen Arbeitsplatz an. „Danach bin ich zur Bank, hab all mein Geld genommen und bin nach Italien abgehauen.“ Er finanziert sein Leben durch Einbrüche. Es folgt eine Haftstrafe, ein versuchter Gefängnisausbruch, eine erneute Gefängnisstrafe. Danach lebt er auf der Straße, zieht fast das ganze Jahr 1986 durch Deutschland.

› Wie hat Ihre Erfahrung als trockener Alkoholiker und ehemaliger Häftling Ihre Perspektive auf das Leben und Ihre Werte verändert?
Für mich sind Ehrlichkeit und Menschlichkeit sehr wichtig geworden. Ehrlichkeit mir selber, aber auch meinen Mitmenschen gegenüber. Und Menschlichkeit, weil mir geholfen wurde, als ich nicht mehr weiterwusste. Heute helfe ich beruflich anderen, die in einer ähnlichen Situation sind, ihre Not zu wenden. Das ist ein schönes und bereicherndes Gefühl, das meinem Leben die Sinnhaftigkeit gibt, die ich früher nicht hatte.

› Hat Stolz auch geholfen, Ihre Suchterkrankung zu überwinden?
Stolz wird seinen Anteil beigetragen haben, als ich für mich schon Klarheit hatte. Zu Beginn waren es eher Hilflosigkeit, Angst, Ratlosigkeit. Erst später wurde es eine Art Stolz darauf, dass ich mich überwunden habe und Hilfe annehmen konnte.

Zufrieden trocken.

Für seine Kinder entschied sich Anton Erhart irgendwann, eine Therapie zu machen. Danach ändert er sein Leben. Im Rahmen eines Arbeits- und Qualifizierungsprojekt für Langzeitarbeitslose im Landkreis Verden hält er Vorträge über seine Alkoholerkrankung, seinen Werdegang und seinen Weg aus der Sucht, ebenso in der Jugendarrestanstalt in Verden. „Und gelegentlich gehe ich auf Einladung von Schulen dorthin, erzähle meine Geschichte, erkläre Entwicklung und Therapiemöglichkeiten.“ Er hat mehrere Bücher über sein Leben geschrieben (im Buchhandel erhältlich). Ehrenamtlich leitet und moderiert er bei einer Fachstelle Sucht seit inzwischen zehn Jahren die Motivationsgruppe.

› Welche Rolle spielt Stolz heute in Ihrem Leben als trockener Alkoholiker? Hat sich der Blick darauf im Laufe der Jahre verändert?
Für mich ist es weiterhin etwas ganz Besonderes, trocken zu sein – und seit inzwischen 19 Jahren übrigens auch rauchfrei. Darauf bin ich stolz: Ich kann das! Und mittlerweile sogar mit einer gewissen Leichtigkeit, weil ich eine gute Grundhaltung zu mir, zum Leben entwickelt habe. Zu Beginn war das Trockensein das „Überthema“. Inzwischen ist es „nur“ einer von vielen Lebensbereichen. Natürlich immer noch ein Teil meiner Persönlichkeit, der sehr wichtig ist. Das Trockensein gehört zu mir und hat auf gewisse Art und Weise auch nicht an Wichtigkeit verloren. Ich habe aber gelernt, damit zu leben. Ich sehe das inzwischen als meine neue Normalität.

› Welche Ratschläge würden Sie anderen Menschen geben, die mit Suchtproblemen kämpfen?
Mein Rat: Seid nicht zu stolz, Hilfe anzunehmen. Seht eure aktuelle Lebenssituation als Momentaufnahme, die veränderbar ist. Leben ist veränderbar! Ein Therapeut hat mal bei einem Ehemaligentreffen gesagt: „Das Beständigste im Leben ist der Wandel.“ Leben verändert sich jeden Tag und wir uns auch. Habt keine Angst vor Veränderung, sondern gestaltet diese Veränderung mit. Damit eure Bedürfnisse erfüllt werden können. Habt Mut und traut euch, Hilfe anzunehmen, und seid stolz auf jeden Tag, den ihr erfolgreich meistert. Weil jeder Tag zählt.

So. Schön. Nachgezählt.

LUKAS-WERK:

9250
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20
Selbsthilfegruppen
1000
Mitglieder in den Selbsthilfegruppen
68
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224
Klient:innen im ABW
1250
abrechenbare Fälle jährlich im IGN und MZEB

Text: Petra Neu // Foto: privat

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