Um sie herum sind Farben, Formen und Kontraste. Gesichter sieht sie nicht. Keine Mimik, keine Gestik. „Das läuft bei mir nicht visuell, sondern ich erkenne Menschen insbesondere an ihrer Stimme“, sagt Manuela Schuller. Seit ihrem achten Lebensjahr ist sie aufgrund einer Augenerkrankung hochgradig sehbehindert. Ihre Beeinträchtigung sei eines ihrer Merkmale, aber „ich bin so viel mehr als meine Sehbehinderung.“ Manuela Schuller ist es wichtig, das zu betonen.
Lieblingsort Schule
Seit 2008 arbeitet die 40-jährige Diplom-Psychologin in der Wohnen und Betreuen und ist dort im Team Entwicklungsberichte für die Kostensicherung der geleisteten Unterstützungs- und Fördermaßnahmen zuständig. „Wir beschreiben jeden Menschen in seinen Ressourcen und Bedarfen, arbeiten heraus, was er oder sie kann, aber insbesondere auch die zentralen Unterstützungsbedarfe in der Aktivität und Teilhabe. Das alles auf wenigen Seiten. Das kann durchaus herausfordernd sein.“ Für sie war es ein „großes Glück“, nach ihrem Studium den Job in Neuerkerode bekommen zu haben und sich seitdem ständig weiterentwickeln zu können. Schuller gibt inzwischen auch Fortbildungen im Bereich personenzentrierte Bedarfsermittlung, die über die Personalentwicklung der esn angeboten werden, und seit 2022 ist sie als Lehrkraft in der Fachschule Heilerziehungspflege in Neuerkerode im Einsatz. Einmal die Woche unterrichtet sie dort die angehenden Fachkräfte in ihrem letzten Ausbildungsjahr. „Der Lieblingstag meiner Arbeitswoche“, sagt sie und lächelt.
Mit Herzblut im Unterricht
„Frau Schuller war ein Glücksfall für uns“, sagt Schulleiterin Annegret Jäkel. Sie sei „Lehrkraft mit Haut und Haaren und schafft es, ein eher trockenes Thema wie das Schreiben von Förderplänen sehr lebendig und kreativ zu vermitteln.“ Die räumliche Orientierung im Klassenraum funktioniert für Schuller gut. Am ersten Unterrichtstag eines neuen Schuljahres stellen sich die Schüler und Schülerinnen ausführlich vor, Schuller prägt sich dann die Sitzordnung ein, merkt sich Stimmen, Gestalten, Umrisse. Oder nimmt einen Hund wahr, den ein Schüler regelmäßig mit in den Unterricht bringt. Bei Wortmeldungen sagen die Auszubildenden zu Beginn jeweils ihren Namen. „Ansonsten gehen alle ganz selbstverständlich mit meiner Sehbeeinträchtigung um, sodass sie gar nicht spürbar ist. Und genau das finde ich so wunderbar“, sagt Schuller.
Ein Mensch als Puzzle
Sie selbst nimmt genau wahr, was um sie herum passiert, hört hin und zu. Die übrigen Sinne der zierlichen Frau scheinen geschärft, um die fehlende Sehkraft zu kompensieren. Einzelne Puzzleteile wie Geräusche, ein Stocken in der Stimme, ein aufgeregtes Atmen, lange Pausen – sie setzt alles zusammen. Für jede Begegnung nimmt sie sich Zeit, um zu erkennen: In welcher Situation ist dieser Mensch gerade? Sie scheint dann voll und ganz bei diesem einen Menschen – wie schön es wäre, würden auch Sehende immer so miteinander umgehen. „Über die Stimme nehme ich wahr, wie die Schüler drauf sind oder auch wie engagiert sie sich einbringen.“ Auch mündliche Noten seien daher kein Problem für sie.
Mit Herausforderungen umzugehen, das kennt Manuela Schuller seit ihrer Kindheit. Sie wollte nie den geschützten Raum einer Sehbehindertenschule oder die Uni danach aussuchen, wie gut man sich im dortigen Umfeld mit einer Sehbehinderung zurechtfindet. „Ich bin in eine ganz normale Schule gegangen und habe mich bewusst für das Studium in meiner Heimatstadt entschieden.“ Sie hat ihren Weg durch nicht barrierefreie Bibliotheken und Hörsäle gefunden und ihren Abschluss gemacht. Bis heute habe sich mit Blick auf das Thema Barrierefreiheit viel getan – vor allem die gesetzlichen Rahmenbedingungen seien besser, technische Hilfsmittel werden stetig weiterentwickelt. Die Barrieren im Kopf sind ihrer Ansicht nach aber noch längst nicht überall abgebaut. „Ich muss mein Können wegen meiner Sehbehinderung nicht besonders beweisen, es ist selbstverständlich. Wo das noch nicht angekommen ist, kann der Alltag sehr herausfordernd sein.“
Text: Petra Neu // Fotos: Bernhard Janitschke