Es gab eine Zeit für Marlis Müller, da glich ein Tag dem anderen und die Stunden zogen sich zäh dahin. „Ich bin morgens aufgestanden, habe mich in die Stube gesetzt und gewartet, dass es Abend wird, damit ich ins Bett gehen kann“, erinnert sich die 78-Jährige. Dabei war sie eigentlich immer eine aktive Frau, hat 35 Jahre lang als Postbotin gearbeitet, ist in ihrer Freizeit weite Strecken mit ihrem Mann gewandert.
Doch nach einigen Stürzen war sie in ihrer Mobilität eingeschränkt. Und auch auf die Gesellschaft ihres Mannes musste sie nach seinem Tod verzichten. Hin und wieder bekam sie Besuch, doch die meiste Zeit war sie allein. „Da war wirklich eine ganz große Langeweile, die ich so bisher nicht kannte“, erzählt die Destedterin. „24 Stunden haben sich für mich angefühlt wie 48 Stunden.“ Doch dann, vor rund drei Jahren, entdeckt sie einen Flyer. Ohne lange darüber nachzudenken, ruft sie bei der aufgedruckten Nummer an – und ahnt noch nicht, dass dieser Anruf ihre Situation erheblich verändern wird.
Es war ein Flyer der Tagespflege am Rittergut Beienrode, die zur Diakoniestation Braunschweig gehört. „Da war zwar ein bisschen was beschrieben, eine genaue Vorstellung davon, was eine Tagespflege ist, hatte ich jedoch nicht“, sagt Müller. Dennoch folgte sie ihrem Gefühl, rief an – und schaute zu einem Schnuppertag in der Tagespflege vorbei. „Ich weiß noch genau, wie ich reinkam, mich hingesetzt habe, und direkt mit einer Frau ins Gespräch kam“, berichtet sie. „Da wusste ich schon: Hier muss ich wieder hin! Es macht einfach Spaß hier!“
Das wird ein guter Tag
Seither kommt Marlis Müller jeden Freitag in die Tagespflege. Wenn morgens der Bus der Diakoniestation vorfährt und der Fahrer ihr beim Einsteigen hilft, weiß sie: Das wird ein guter Tag. Müller sagt: „Für mich ist das jedes Mal wie ein kleiner Urlaub.“ Und auch in der Tagespflege wird sie mittlerweile mit den Worten begrüßt: Da ist ja unsere Urlauberin wieder! Jetzt geht die Sonne auf! Hier braucht sich Marlis Müller um nichts zu kümmern. „Morgens gibt es zuerst Frühstück und eine kleine Andacht. Dann geht es in den Bewegungsraum und wir machen Gymnastik oder Gedächtnistraining“, sagt Sina Grade, Pflegekraft in der Tagespflege. Nach dem Mittagessen gibt es eine kleine Pause – Marlis Müller nutzt sie aber statt zum Ausruhen lieber zum Spielen – und am Nachmittag geht es wieder in den Bewegungsraum oder man unternimmt etwas Schönes. Marlis Müller ist bei jeder Aktivität dabei. „Mir macht hier wirklich alles Spaß. Selbst das Essen schmeckt hier besser als zuhause, allein schon, weil man es gemeinsam isst“, berichtet sie.
Freitag ist Feiertag
Auch ihr Sohn, der nebenan von ihr wohnt, merkt eine Veränderung. „Er sagt, wenn ich aus der Tagespflege nach Hause komme, wäre ich ganz anders“, so Müller. „Aber das ist ja auch klar – endlich habe ich dann wieder was zu erzählen.“
Der Besuch in der Tagespflege ist deshalb immer fest für den Freitag eingeplant. Die 78-Jährige erzählt: „Wenn da jemand einen Termin mit mir machen will, sage ich den von vorneherein ab. Da bin ich grundsätzlich nicht zu erreichen. Er ist wie ein Feiertag für mich.“ Der Tag ist ihr Erlebnis und Struktur für die Woche gleichermaßen, sie genießt die Aktivitäten, die Gespräche – vor allem die Gemeinschaft. „Wie man sich hier austauschen kann und nach seiner Meinung gefragt wird – wie habe ich das vermisst“, sagt Marlis Müller.
Kommt die Destedterin nach einem Tag in der Tagespflege nach Hause, ist sie erschöpft, aber sehr zufrieden. „Ich bin ausgelastet und weiß, was ich an dem Tag geschafft habe“, sagt sie. „Und sobald ich zuhause bin, freue ich mich schon direkt wieder auf den nächsten Freitag.“ Denn dann geht es für die Destedterin wieder nach Beienrode – in ihren ganz besonderen kleinen Urlaub.
Text: Lukas Dörfler // Fotos: Bernhard Janitschke