Zwischen Abschied und Neubeginn

– Babykörbchen –

Der Alarm ist unscheinbar. Zweimal ein kurzes Piepsen, eine Pause, erneut zwei kurze Piepser. Im Grunde ist es das gleiche Signal, das ertönt, wenn jemand auf einem der Patientinnenzimmer die Klingel betätigt. Für die Pflegekräfte ist das Routine. Wenn zeitgleich aber noch ein visuelles Signal mit dem Schriftzug „Babykörbchen“ aufleuchtet, ändert das alles. Aus der Routine wird ein Ausnahmefall. „Mein Blick wandert dann direkt zu dem Bildschirm, der ständig unser Babykörbchen zeigt“, berichtet Miriam Plischke. Bestätigt dieser, dass hier wirklich ein Kind liegt, geht alles ganz schnell. Auf dem Weg nach unten rasen die Gedanken der Pflegefachkraft: Geht es dem Kind gut? In welcher Verfassung ist es?

Miriam Plischke ist schon über 20 Jahre in der Klinik für Frauenheilkunde & Geburtshilfe tätig. Jedes Kind, das hier das Licht der Welt erblickt, ist ein kleines Wunder. Und doch, bei fast 1.000 Geburten im Jahr, auf eine gewisse Art Alltag. Anders bei dem Babykörbchen. „Hier wurden in den vergangenen 23 Jahren 14 oder 15 Kinder abgegeben“, sagt Plischke.

Angst? Verzweiflung? Erleichterung?

Die Gründe, warum die Mütter ihre Kinder abgeben, kennt sie nicht.

„Ich kann und will mir wirklich nicht ausmalen, in was für einer Notlage sie sich befinden müssen, um ihr eigenes Fleisch und Blut abzugeben“, sagt sie. „Wenn ich nur daran denke, bekomme ich eine Gänsehaut.“
Wie sich die Mutter fühlt, während sie ihr Kind in das Babykörbchen legt, kann wohl niemand nachvollziehen. Angst? Verzweiflung? Vielleicht auch Erleichterung? Um ihr in diesem Moment wenigstens etwas an die Hand zu geben, liegt ein Stempelkissen bereit, falls die Mutter einen Fußabdruck anfertigen möchte. Manche Frauen legen zum Abschied auch Briefe oder Spielsachen mit hinein. Sie finden einen Infozettel, auf dem steht, wie sie das Kind zurückbekommen können, falls sie sich umentscheiden. Hier findet sich auch der Hinweis, dass sich im Krankenhaus Marienstift gut um das Kind gekümmert wird.

In liebevollen Händen

Denn was auch immer vorher war – hier ist das Kind in Sicherheit, geborgen und umsorgt. Das Bettchen ist immer gemacht, bereit für den Ernstfall, rund um die Uhr vorgewärmt auf 37 Grad. Es ist ein erstes, warmes „Willkommen“. Dabei liegt das Baby hier nur kurz: Sobald die Mutter sich verabschiedet hat und die Tür sich wieder schließt, ertönt der Alarm. Schnell sind Plischke und ihre Kolleginnen vor Ort, wickeln das Baby in ein warmes Handtuch und nehmen es mit. „Auf der Station wird es zunächst untersucht und dann bringen wir es ins Kinderzimmer“, sagt Plischke. Außerdem wird das Jugendamt informiert, das sich um eine Pflegefamilie kümmert.

Bis dahin ist es in liebevollen Händen. „Es ist nicht leicht, ein Kind zu sehen, das so allein in der Welt ist“, erzählt Plischke. Doch die Mitarbeitenden der Station bauen eine enge Bindung zu dem Baby auf. Sie geben ihm einen Namen, füttern und umsorgen es, nehmen es auf den Arm, kuscheln und geben Nähe und Geborgenheit – übernehmen all das, was sonst die Eltern tun würden. „Uns fällt es da gar nicht so leicht, das Kind wieder abzugeben“, sagt die Pflegefachkraft. „Aber natürlich freuen wir uns, wenn wir sehen, dass es in eine liebevolle Familie kommt.“ 

Doch wie passt die Möglichkeit, ein Kind abzugeben überhaupt zum Marienstift? „Ich finde, sehr gut – gerade mit dem christlichen Hintergrund der Nächstenliebe“, sagt Plischke. Schließlich gebe niemand die eigenen Kinder leichtfertig weg. Und wer wüsste, was mit den Kindern ohne diese Möglichkeit passieren würde, wenn die Eltern verzweifelt sind und nicht wissen, wie es weitergehen soll?

Wie diese Verzweiflung aussehen kann, hat Plischke schon erlebt: Einmal, rund 15 Jahre ist das her, trifft sie vor dem Krankenhaus eine Frau, die extrem aufgewühlt ist. Die Pflegefachkraft spricht sie an. Es stellt sich heraus, dass die Frau in der mitgebrachten Sporttasche ihr Kind versteckt hat und auf der Suche nach dem Babykörbchen ist. Sie bricht zusammen, erzählt, warum ihre Situation so ausweglos für sie ist und sie keine Möglichkeit sieht, das Kind großzuziehen. „Das war eine Begegnung, an der ich wirklich lange zu knabbern hatte – und die gezeigt hat, wie wichtig das Babykörbchen ist“, sagt sie.
 

Hilfe für Mütter in Not

Zudem gibt es im Marienstift auch noch andere Möglichkeiten für Mütter in Notlagen. Sie können ihr Kind in einer sogenannten anonymen oder einer vertraulichen Geburt auf die Welt zu bringen. Bei der anonymen Geburt kommt die Mutter mit einem Pseudonym in die Klinik. Niemand kann die Daten der Mutter ermitteln. Bei der vertraulichen Geburt wird ihr Name in einer Beratungsstelle in einem versiegelten Umschlag hinterlegt. Hier hat das Kind nach 16 Jahren die Chance zu erfahren, wer die leibliche Mutter ist. Auch in solchen Fällen fragt Plischke niemals nach dem „Warum“. „Sie werden ihre Gründe haben und ich verurteile keine von ihnen. Außerdem gibt es genug Menschen, die sich sehnlichst ein Kind wünschen“, sagt Plischke. „Jedes Kind hat ein gutes Leben verdient. Und dazu können wir mit unseren Angeboten einen Beitrag leisten.“
 

Video zum Babykörbchen

Text/Video: Lukas Dörfler // Fotos: Bernhard Janitschke/esn

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