Neuerkerode auf Madagaskar?

– Unbekanntes wagen –

Auf einer Insel inmitten des Indischen Ozeans treffen die 23 Jahre alte Antsaniory Ravongiarisoa und ihr 24-jähriger Ehemann Marius eine Entscheidung: Sie werden ihre Heimat Madagaskar verlassen, um in Deutschland eine Ausbildung zu beginnen. Ihr Weg führt sie an die Fachschule Heilerziehungspflege ins mehr als 8.000 Kilometer entfernte Neuerkerode. Ausbildungsstart: Sommer 2024. Was veranlasst Menschen dazu, alles aufzugeben, um woanders neu anzufangen? Ein Erfahrungsbericht vom Aufbruch über das Ankommen bis hin zu dem neuen Alltag und den Wünschen und Träumen, die das junge Paar leiten.

Über das Aufbrechen

Der Moment am Flughafen in Antananarivo, der Hauptstadt von Madagaskar, war sehr, sehr traurig. Unsere Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten – sie alle waren mitgekommen, um uns zu verabschieden. Ein letztes gemeinsames Foto vor dem Flugzeug. Dann würden wir uns voraussichtlich für mindestens drei Jahre nicht wiedersehen. Die Entscheidung zu gehen, ist uns unendlich schwergefallen. Doch auf Madagaskar haben wir von Tag zu Tag gelebt. Besser gesagt: Wir haben von Tag zu Tag überlebt. Das System und die Strukturen sind kaputt und unzuverlässig. Wir haben dort keine Zukunftsperspektive gesehen.

Ankommen in Deutschland

Vier Tage lang hat es gedauert, bis wir hier waren. Völlig erschöpft und müde kamen wir schließlich in Hannover an. Dort trafen wir ein vertrautes Gesicht. Antsaniorys Schwester hatte den Schritt nach Deutschland bereits ein Jahr zuvor gewagt. Aus unserem Studium auf Madagaskar waren wir mit der deutschen Sprache zwar schon etwas vertraut, aus Büchern hatten wir auch theoretisches Wissen über Politik, Kultur, Literatur und Landeskunde. Und trotzdem ist dann doch alles anders und ungewohnt und macht irgendwie Angst und unsicher: Werden wir das wirklich schaffen?

Leben und lernen in Neuerkerode

Das inklusive Dorf ist besonders. Das wussten wir schon von Antsaniorys Schwester. Wir waren sehr gespannt auf die Menschen hier und müssen sagen, dass es uns seit dem ersten Tag an leicht gemacht wurde. Als wir in Neuerkerode ankamen, spazierten uns Bürgerinnen und Bürger mit einem freundlichen „Hallo! Wer bist Du?“ entgegen. Das war sehr schön. Dann war es so weit: der erste Schultag. Alle sind hier sehr offen. Diskussionen mit der Lehrerschaft und Gruppenarbeit kennen wir aus dem madagassischen Schulsystem nicht. Wir sind mit Frontalunterricht aufgewachsen. Deshalb hat es uns anfangs Überwindung gekostet, aber inzwischen bringen wir uns aktiv im Unterricht ein. Auch die erste Zeit im Praxiseinsatz war herausfordernd für uns. Wir hatten beide auf Madagaskar Praktika in Senioreneinrichtungen gemacht und wussten in etwa, was im Bereich Pflege auf uns zukommen wird. Und trotzdem waren da Unsicherheiten: Gehen wir richtig mit den Menschen um? Wie reagieren wir in bestimmten Situationen? Darf ich als weibliche angehende Heilerziehungspflegerin männliche Bewohner waschen? Die Kollegen in den Wohngruppen gaben uns Halt und Zeit, alles kennenzulernen.

Neuer Alltag

Manchmal sind wir fix und fertig nach der Schule oder dem Praxiseinsatz. Dann freuen wir uns einfach darauf, in unserem eigenen Apartment in Neuerkerode anzukommen. Viel mehr Platz als auf Madagaskar, wo wir mit unseren großen Familien auf sehr engem Raum gelebt haben. Wir haben auch schon ein großes Stadtfest in der Braunschweiger Innenstadt erlebt. Dort sind wir zum ersten Mal in unserem Leben Karussell gefahren. Wir gehen auch gern in den Parks in Braunschweig spazieren. Auch wenn die Natur hier ganz anders ist als auf Madagaskar, erinnert uns das viele Grün an unsere Heimat. In Neuerkerode selbst sind wir gern am Sportplatz. Dort genießen wir die Ruhe und es ist reichlich Platz, um das Fahrradfahren zu üben. Antsaniony hat das als Kind nicht gelernt. Das holen wir jetzt nach. Wir fühlen uns hier schon recht wohl. Und trotzdem vermissen wir viel, allem voran die Familie.

Wünsche, Träume, Ziele

Die Arbeit mit Menschen gefällt uns sehr. Nach der Ausbildung könnten wir uns vorstellen, hier zu studieren und z. B. im Rahmen der Heilerziehungswissenschaften zu erforschen, wie Menschen mit Beeinträchtigung noch besser in ihrer Selbstständigkeit unterstützt werden können. Auf Madagaskar wäre ein solches Studium nicht möglich. Menschen mit Behinderung finden dort kaum Beachtung, werden häufig nur verwahrt statt angemessen betreut und unterstützt, leben oft am Rande der Gesellschaft in großer Armut. Unser Herzenswunsch ist es, irgendwann zurückzukehren mit all unseren Erfahrungen, die wir in Deutschland sammeln dürfen, um dann eine Behinderteneinrichtung auf Madagaskar ins Lebens zu rufen, in der die zu betreuenden Menschen echte Teilhabe und Unterstützung erfahren. Eine Einrichtung oder vielleicht sogar ein ganzes Dorf wie es Neuerkerode ist. Nur eben auf Madagaskar.

Aufgeschrieben von: Petra Neu // Foto: Bernhard Janitschke

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