Wenn Helmut Weidemeier an seinem Schreibtisch sitzt, kommt er zwar nur langsam, aber dafür beständig voran. Tippen kann er nur mit dem Knöchel des kleinen Fingers seiner linken Hand. Doch der Wille zum Schreiben ist ungebrochen. So tippt er Buchstabe um Buchstabe, Wort um Wort, Seite um Seite in die Tastatur seines Computers.
Mein Geist noch fit
Zwei Bücher hat er so in seinem Zimmer im Braunschweiger Pflege- und Seniorenzentrum St. Vinzenz in Braunschweig schon fertiggestellt. An seinem dritten Werk sitzt er gerade. „Diesen Text werde ich wohl nicht mehr zu Ende bringen“, sagt der 95-Jährige. Aber darum gehe es ihm nicht, sondern um den Prozess selbst, um das Ringen um Klarheit und die richtigen Worte – dauere es, so lange es wolle. „Denn auch, wenn mein Körper ein Wrack ist, ist mein Geist noch fit“, so Weidemeier.
Und ein Feingeist war er schon immer: Der mittlerweile hochbetagte Senior war früher Lehrer für Mathematik, Physik und Philosophie. Als er Schulleiter am Abendgymnasium wurde, hat er hier Philosophie als Fach eingeführt. Philosophie und Kunst begleiten ihn schon sein ganzes Leben. „Meine Leidenschaft konnte ich als junger Mann aber nicht wirklich ausleben, weil ich finanziell klamm war“, erinnert er sich.
Heute, in seinem Zimmer im Haus St. Vinzenz in Braunschweig, ist er hingegen von Kunst umgeben: An den Wänden hängen Drucke von van Gogh, Renoir und Marc. „Das Blaue Pferd ist mir eines der liebsten Bilder“, erzählt er mit einem Strahlen in den Augen und zeigt auf das nächste Bild. „Oder hier, Marc Chagall. Der ist so unfassbar träumerisch.“ Ein Platz an der Wand ist noch frei, hier soll ein Kandinsky hinkommen. Vor allem interessieren ihn in der Kunst die Zeiten der Umbrüche.
Das Schreiben war einfach immer da
Auch die Literatur fasziniert Weidemeier schon lange. Besonders liebt er die Gedichte von Rilke. „Ich hatte schon immer den Drang, selbst zu schreiben. Nur als Student und im Beruf hatte ich dafür wenig Zeit“, erinnert er sich. Die Zeit, Gedichte zu schreiben, nimmt er sich aber seit jeher. Ohne sie gehe es einfach nicht. Das Schreiben helfe ihm, Dinge zu erkennen – und die Ereignisse seines Lebens festzuhalten. „Das Schreiben war einfach immer da und begleitet mich bis heute“, berichtet Helmut Weidemeier. Er schreibt sein ganzes Leben lang – von der Schulzeit, während seiner Zeit als Lehrer und selbst als er als Senior Pflege benötigt, ringt er seinem Körper die Wörter ab.
Das bleibt auch den Mitarbeitenden von St. Vinzenz nicht verborgen. Als er an einem Text über ein junges Theologenpaar sitzt, das eine Kirche besichtigt und das das Verhältnis von Glauben und Wissenschaft erörtert, ermuntert eine Pflegekraft ihn zur Veröffentlichung. Zunächst gefällt ihm der Gedanke gar nicht. In seiner Zeit als Lehrer hat er gemeinsam mit dem Westermann-Verlag ein Physikbuch herausgebracht. Literarisch ausleben konnte er sich hier nicht. „Mir gefiel die Arbeit mit den Lektoren und Lektorinnen überhaupt nicht“, erinnert sich der 95-Jährige. „Da wurde sich viel eingemischt. Das konnte ich Dickkopf nur schwer ertragen.“
Das ewige Sein
Für dieses Problem findet sich jedoch eine Lösung: eine Veröffentlichung in einem Selbstverlag – ohne jegliche Einschränkungen der künstlerischen Freiheit. „Das erste Mal das gedruckte Buch in den Händen zu halten war wie ein Erwachen. Dieser Moment war etwas ganz Besonderes“, sagt Weidemeier. Diese Erfahrung regt ihn dazu an, auch einen Gedichtband zu veröffentlichen. Helmut Weidemeier sichtet die Texte, die er über viele Jahre geschrieben hat, wählt aus und stellt sie zu einem Buch zusammen. Es wird ein Überblick über sein Leben werden. Auch über sein Leben im St. Vinzenz, sein neues Zuhause und die Pflegekräfte findet sich hier etwas. Das letzte Gedicht blickt in die Zukunft: Es beschäftigt sich mit dem Sterben. Weidemeier sagt: „Da bin ich ganz realistisch – und glaube, dass es danach irgendwie weitergeht, im ewigen Sein.“ Das Sein – ein Thema, an dem sich viele Philosophen versucht haben. Hier hat Wedemeier bisher zehn Seiten fertiggestellt. Es müsste ein sehr dickes Buch werden, um dem Thema gerecht zu werden, meint er. „Mir ist bewusst, dass ich dieses Werk nie vollenden werde“, sagt Helmut Weidemeier. „Aber damit habe ich meinen Frieden gemacht. Ich schreibe trotzdem weiter, um meine Gedanken zu sortieren. Ganz für mich und für niemanden sonst.“

