Seit einem halben Jahrhundert lernen, lehren und wachsen Menschen an der Fachschule für Heilerziehungspflege der esn. In dieser Zeit hat sich viel verändert: Kreide wurde durch smarte Tafeln ersetzt, pflegerischer Unterricht wurde um soziale, pädagogische und psychiatrische Themen ergänzt. Eines ist gleich geblieben: die Freude am Miteinander und das Engagement für die Schüler:innen und die Menschen, die sie begleiten.
Die Fachschule in Neuerkerode ist eine kleine Schule mit viel Herz. Drei Klassen, individuelle Förderung und ein Team aus hauptberuflichen Lehrkräften, Honorarkräften und Praxisanleiter:innen. Ein durchdachtes Lehrkonzept, welches Fachwissen, Praxisnähe und Menschlichkeit vereint. Als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ setzt sie seit Jahren ein klares Zeichen für Respekt und Vielfalt.

„Es lohnt sich für das zu kämpfen, was Ihnen am Herzen liegt“
Schulleiterin Annegret Jäkel hat in ihren 22 Jahren die Entwicklung der Schule erlebt, begleitet und vorangetrieben. Gemeinsam mit ihrem starken Team hat sie sich für die Schulgeldfreiheit eingesetzt und für die gesellschaftliche Anerkennung der Heilerziehungspflege.
Aus Neugier wurde schnell Leidenschaft
Wie sind Sie selbst zu der Fachschule gekommen?
Als gelernte Krankenschwester und Diplom Pädagogin habe ich damals in der psychosozialen Betreuung von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen gearbeitet. Ich wurde von einer Lehrkraft der HEP-Schule, Antje Paul, nebenberuflich als Lehrkraft für pflegerische Inhalte angeworben. Ich hatte vorher noch nie mit Gruppen gearbeitet und das reizte mich als neue Herausforderung. Ziemlich schnell wurde klar: Diesen Job mache ich entweder ganz oder gar nicht. Also habe ich den beruflichen Umstieg gewählt und bin ganz in diese Schule gegangen.
Wie war die erste Zeit als Lehrerin?
Ich war überrascht, wie viel Spaß mir das Arbeiten mit Gruppen macht.
Die ersten Jahre waren sehr arbeitsintensiv, ich musste mir die Themen selber wieder neu erarbeiten und war den Schüler:innen oft nur zwei Lehreinheiten voraus. Da ist jeder Ferientag für draufgegangen. Mit der Zeit wurde es leichter, weil ich auf bereits erarbeitetes Material zurückgreifen konnte und es nur weiterentwickeln und anpassen musste. Meine erste Klasse war die HEP 28 und wir hatten eine besondere Verbindung.
Was hat Sie dazu bewegt, die Schulleitung zu übernehmen?
Das ging schneller als gedacht und war nicht geplant: Nach dem Weggang meines Vorgängers war 2009 die Stelle plötzlich vakant und obwohl meine Kinder noch klein waren, habe ich die Chance nach kurzem Zögern ergriffen. Rückblickend war es genau der richtige Zeitpunkt, die Schule gemeinsam mit meinem Team weiterzuentwickeln.


Freude & Herausforderungen
Was macht Ihnen an der Arbeit am meisten Freude?
Die enge Begleitung von Menschen, die hier an unsere Schule kommen. Ich möchte Sie kennenlernen, gemeinsam mit Ihnen Themen erarbeiten, Gespräche führen und Lösungen suchen für ungewöhnliche oder herausfordernde Situationen. Das ist das, wofür ich hier jeden Morgen gerne herkomme.
Ich stelle immer wieder fest, dass die zukünftigen Heilerziehungspfleger:innen etwas ganz Besonderes sind. Wenn ich auf Gruppen anderer Ausbildungsgänge treffe z. B. auf Messen oder in Schulen, merke ich: Ich würde immer die HEPs nehmen!
Wir haben ein tolles Team, unterstützen uns gegenseitig und schaffen eine Atmosphäre, in der alle gerne zur Schule kommen. Nur Klausuren korrigiere ich nicht gerne,“ (lacht).
Besondere Momente bleiben in Erinnerung. Es ist beeindruckend, wenn Schüler:innen im Kontakt mit Menschen aus dem Dorf so einfühlsam, liebevoll und kreativ sind oder wenn schwierige Situationen gut gemeistert werden und wir durch unsere Unterstützung zum Gelingen beitragen können. Auch individuelle Lösungen gehören dazu. Ein Beispiel sind Frauen, die während der Ausbildung schwanger werden. Wir ermöglichen ihnen, den Theorieteil und die Prüfungen weiterzuführen und die fehlenden Inhalte nach der Babypause nachzuholen. Heute sind einige von ihnen Fach- und Leitungskräfte in Neuerkerode.

Welche Erlebnisse haben Sie und die Schule besonders geprägt?
Der Umzug der Schule zurück in das inklusive Dorf Neuerkerode war ein großer Wendepunkt in der HEP-Ausbildung. Gemeinsam mit Rüdiger Becker, damals Direktor und Vorstandsvorsitzender der esn, haben wir wieder zusammengeführt, was zusammengehört. Wir konnten so Theorie und Praxis vereinen und eine enge Zusammenarbeit mit den Praxisstellen schaffen.
Menschlich und persönlich war der Tod von Rüdiger Becker ein einschneidendes Erlebnis, das mich und uns alle hier tief erschüttert hat. Wir vermissen ihn nicht nur als Religionslehrer, sondern auch wegen der engen Zusammenarbeit, die uns bereichert und geprägt hat.
Welche Herausforderungen haben Sie in den letzten Jahren erlebt und wie sind Sie damit umgegangen?
Auch die Corona-Pandemie war eine große Herausforderung. Zum Glück hatten wir iServ bereits eingeführt, sodass wir viel Video-Unterricht und Home-Schooling anbieten konnten. Einige Schüler:innen, die zu Hause nicht lernen konnten, kamen in die Schule. Alle sorgten mit Elan dafür, die Verbreitung des Virus für die besonders vulnerable Gruppe von Menschen mit Beeinträchtigungen zu verhindern. Ich vergesse oft, was in dieser Zeit von allen geleistet wurde, aber es war beeindruckend.
Schule im Wandel
Wie hat sich das Lehren und Lernen in den letzten Jahrzehnten verändert?
Früher hieß es, überspitzt gesagt: „satt und sauber“. Heute geht es um Assistenz, Selbstbestimmung und Teilhabe, ohne die fundierte Pflege zu vergessen. Unsere Aufgabe als Heilerziehungspfleger:innen ist es, Beziehungen aufzubauen, Menschen in ihrem Alltag zu begleiten, ihnen zu assistieren, damit eigene Entscheidungen getroffen werden können und Selbstwirksamkeit entsteht.
Im Lehrplan geht es nicht mehr um reines Faktenwissen, sondern um Lernsituationen mit Praxisbezug und Transfer. Uns ist wichtig, dass Schüler:innen einen guten Blick auf Menschen entwickeln, kritische Situationen erkennen und Fachwissen praktisch anwenden.
Auch die Rolle der Lehrkraft hat sich verändert. Wir geben nicht mehr alles frontal vor, sondern unterstützen beim eigenständigen Lernen, setzen auf Gruppenarbeiten, diskutieren Zusammenhänge und ermutigen zu kritischem Denken. So wird Wissen nachhaltig verankert. Als Schule in freier Trägerschaft können wir eigene Schwerpunkte setzen, etwa mit einem großen Block Psychiatrie-Unterricht. Herausforderungen aus der Praxis besprechen wir direkt im Unterricht, damit Theorie und Praxis eng verbunden bleiben.


Welche Entwicklungen in der Ausbildung sehen Sie besonders positiv?
Unsere Schüler:innen werden heute stärker dazu befähigt, Menschen mit Behinderungen selbstbewusst zu begleiten und Inklusion voranzutreiben. Je selbstsicherer sie hier aus der Ausbildung gehen, desto mehr tragen sie das auch in die Welt und lassen sich nicht von negativen Haltungen beeinflussen.
Was unterscheidet Ihre Schule von anderen?
Unsere Schule hat eine sehr persönliche Atmosphäre. Wir kennen uns gut und können individuell auf die Bedürfnisse der Schüler:innen eingehen. Wer besondere Unterstützung braucht, bekommt sie, so dass die meisten die Ausbildung erfolgreich abschließen können.
Wir bauen auf einem diakonisch-humanistischen Wertesystem auf und sind eng mit der praktischen Arbeit verbunden. Wir arbeiten mitten im Dorf, in dem viele Menschen mit Beeinträchtigung leben und hören genau hin, was Fachkräfte an Kompetenzen brauchen. All dies nehmen wir in unsere Lehrpläne auf und arbeiten damit.
Was bedeutet Ihnen das Motto „Schulen ohne Rassismus – Schule mit Courage“ im Schulalltag?
Das Motto „Schulen ohne Rassismus – Schule mit Courage“ hat für uns eine große Bedeutung. Gerade mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen halte ich klare Standpunkte gegen rechts für unverzichtbar. Wir sprechen hier viel über eine wertschätzende Haltung gegenüber jedem Menschen. Wir entwickeln auf dieser Grundlage das Miteinander und versuchen einander Vorbild zu sein. Alle lernen dabei.

Ein Blick in die Zukunft
Was wünschen Sie sich für die nächsten 50 Jahre der Schule?
Für die nächsten 50 Jahre wünsche ich mir vor allem, dass die Schule auch nach meinem Abschied in ein paar Jahren in gute Hände kommt. Mit einem engagierten Team steht und fällt die Ausbildungsqualität und der Spaß an der Ausbildung. Mir sind dieser Ort und die Menschen hier wichtig.
Außerdem hoffe ich, dass der Beruf der Heilerziehungspflege weiterhin auf dem jetzigen Weg bleibt, die Anerkennung zu erhalten, die er verdient – als pädagogische Fachkraft, die kompetent in vielen Bereichen der Gesellschaft mitwirkt.
Und nicht zuletzt wünsche ich mir, dass wir weiterhin so motivierte und engagierte Schüler:innen haben, die diesen Weg mit uns gehen und gut für die Menschen mit Beeinträchtigung sind.´
Welche Botschaft würden Sie Ihren Schüler:innen für ihr Berufsleben mitgeben?
„Es lohnt sich für das zu kämpfen, was Ihnen am Herzen liegt. Und solange das die Menschen sind, mit denen Sie arbeiten, sind Sie hier genau richtig.“
Annegret Jäkel
1946 | Gründung der „Diakonie-Pflegeschule“. Bis 1972 erhalten rund 70 Schülerinnen und Schüler dort ihre Ausbildung. |
1972 (7. Juli) | Eröffnung der „Lehranstalt für Heilerziehungshelfer“ in Neuerkerode. Anerkennung und Genehmigung nach staatlichen Ausbildungsrichtlinien, einschließlich aller bisher geprüften Heilerziehungshelfer. |
1975 | Beginn der Ausbildung von Heilerziehungspfleger:innen – Erweiterung des Ausbildungsangebotes in Neuerkerode. |
1987 | Ausbildungskosten für Heilerziehungspfleger und Altenpfleger werden vom Landessozialamt nicht mehr anerkannt. Verhandlungen und Protestveranstaltungen der Fachschüler (1989). Das Land gewährt einen monatlichen Ausbildungszuschuss. |
1996 (Aug.) | Inkrafttreten der neuen Verordnung über Schulen für andere als ärztliche Heilberufe (SaH-VO). Entstehung von Projekten wie Sinnesgarten, Neuerkeröder Fernsehen, Freizeitgestaltung und Biografiearbeit. |
1997 | Erwerb eines neuen Gebäudes in Sickte durch die Maria-Stehmann-Haus-Stiftung. |
2004 | Teilnahme an der EU-Projektwoche Association of Care Educators in Europe (ACE) mit Schüleraustausch (Schweiz und Würzburg). 9 Schüler:innen besuchen andere Fachschulen in Deutschland. |
2009 (30. Jan.) | Erster „Tag der offenen Tür“ in der Fachschule Heilerziehungspflege in Sickte. |
2009 (1. Aug.) | Annegret Jäkel wird neue Schulleiterin. Rund 70 Schüler:innen absolvieren die dreijährige Ausbildung. Einführung von Stipendien für die Klassenbesten (inkl. Arbeitsvertrag und dreimonatigem Auslandsaufenthalt). Beteiligung an Theaterfestival Wechselblick. Erste Praxisstellenbörse. |
2011 | Thementag „Menschenrechte“: Über 60 Schüler:innen setzen sich mit weltweiten Menschenrechtssituationen auseinander. Gäste: Organisation ICJA. |
2012 | 139 Auszubildende der Fachschule arbeiten in verschiedenen Bereichen der Evangelischen Stiftung Neuerkerode (Altenpflege, Verwaltung, Bau, Gärtnerei, Suchthilfe des Lukas-Werkes). |
2014 (Juni) | Umzug in neue Räume in der ehemaligen Heimpädagogischen Sonderschule im Dorf Neuerkerode. |
2023 (Mai) | Der Niedersächsische Landtag beschließt die Schulgeldfreiheit für die Ausbildung in der Heilerziehungspflege an privaten Schulen – auch die Fachschule in Neuerkerode profitiert. |
Impressionen 50 Jahre HEP-Ausbildung
Ausbildung an der Fachschule Heilerziehungspflege
Mehr Informationen über die Ausbildung gibt es hier.
Text: Birthe Schnatz// Fotos: Birthe Schnatz, Bernhard Jantschke & Archiv