Laufschuhe

Nicht ohne meine Laufschuhe

2019 erlebte Regina Yildiz einen gesundheitlichen Tiefpunkt. Im Krankenbett blieb viel Zeit zum Nachdenken. Kurz danach krempelt sie ihr Leben um. Mitte 2020 nimmt Regina Yildiz die, wie sie sagt, „Herausforderung im Nachtdienst“ der Wohnen und Betreuen in Neuerkerode an. Inzwischen wurde ihr dort die Leitungsverantwortung übertragen. Ein Tagebuch aus einer ganz „normalen“ Nacht.

Es gibt Millionen von Läufern auf dieser Welt. Dieser Run ist meiner!

Regina Yildiz

20 Uhr

Ich bereite mich innerlich und äußerlich auf die Nachtschicht vor, lege meine Arbeitssachen an: Taschenuhr, Versorgungstasche am Gürtel, bunter Kittel und meine Lieblingslaufschuhe – leicht, rosa und bequem. In der Einarbeitungszeit lernte ich, dass es auf gutes Schuhwerk und Kondition ankommt. Die Sportschuhe begleiten mich seitdem. Sie waren Nackenstütze bei einer Reanimation mit Herzdruckmassage eines Bürgers. Sie tanzten in einer Wohngruppe Walzer an Heiligabend. Sie streiften auch auf der Suche nach einem Vermissten durch Neuerkerode. Sie kennen jeden Winkel.

Meine Sneakers sind mir ans Herz gewachsen, verleihen Stand, Bequemlichkeit und Sicherheit und verhelfen mir durch jede Nacht.

20:13 Uhr

Meine Turnschuhe treffen auf weitere Exemplare ihrer Art. Sie düsen alle zur Corona-testung, um anschließend auszuschwärmen in über 20 Häuser und Appartements in Neuerkerode. Der Nachtdienst stellt 40 Prozent der Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Jedes Haus umfasst vier bis sechs Wohngruppen. Insgesamt flitzen die farbenfrohen Treter zu über 700 Bewohnern pro Nachtschicht.

20:30 Uhr

Übergabe in den Wohngruppen: Zu meiner Grundausrüstung kommen Dienstschlüssel, Funkgerät und Diensttelefon hinzu. Der Spätdienst berichtet, wie der Tag gelaufen ist und welche Besonderheiten es gab. Wie ist das Verhalten, der Krankheitsstand, das Befinden der Bürger? Was muss auf der Wohngruppe noch erledigt werden? Wohngruppe 5 hat eine Coronaisolierung. Persönliche Schutzausrüstung (PSA) ist heute Nacht erforderlich.

Regina Yildiz liest vor

Für meine Lieblingsschuhe bedeutet das das mehrmalige An- und Ablegen von blauen Schuhüberziehern und das spätere Desinfektionsbad in der Waschmaschine.

21:00 Uhr

Der Spätdienst verlässt mich mit den Worten: „Wir wünschen dir einen ruhigen Dienst!“ Es wird stiller. Meine Schritte scheinen auf den Fluren der Wohngruppen zu hallen, die Geräusche verändern sich. Ich beginne mit meinem Pflegemarathon. Jeder Bürger benötigt individuelle Begleitung, um den Übergang in die Traumwelt zu schaffen. Ich fokussiere mich. Ich halte Hände und tröste gegen die Einsamkeit in der Nacht. Ich höre geduldig zu, spiele Gesellschaftsspiele, putze Zähne, wasche, kleide um, lese Gute-Nacht-Geschichten oder singe Abendlieder. Ich reiche Getränke und Guten-Abend-Snacks. Ich eile von Zimmer zu Zimmer, wechsle Inkontinenzmaterial. Ich sichte auf Brandschutz und Gefahrenabwehr.

22:17 Uhr

Ich dokumentiere die ersten Versorgungsrunden, stelle Medikamente und checke meine Mails. Alles gut so weit.

22:30 Uhr

Mein Diensttelefon klingelt. Ein Bürger aus Wohngruppe 3. Ich gehe zu ihm, tausche Inkontinenzmaterial, halte Small Talk und reiche ihm ein Getränk.

22:37 Uhr

Anruf einer Kollegin. Der Rettungsdienst will einen Bürger nach dem Krankenhausaufenthalt zurückverlegen. Ist das machbar bei reduzierter personeller Nachtbesetzung? Welche pflegerischen Aspekte sind zu berücksichtigen? Ich streife meine PSA und Schuhüberzieher ab, verlasse meinen Bereich, um die Aufnahme zu prüfen.

Regina Yildiz am Bett

22:45 Uhr

Erneut das Diensttelefon. Ein aggressiver Bürger, bei dem die Tür zur Nacht verschlossen wurde, möchte ins Bad. Nun renne ich los. Ich habe ein Quäntchen Glück in dieser Schicht und muss das Bett nicht frisch beziehen. Ich begleite den Toilettengang. Die Bürgerin aus dem Zimmer nebenan erwacht vom Flurlicht und denkt, es sei Frühstückszeit. Liebevolle Worte und ein letztes Zudecken, bevor meine Runde weitergeht, ich die Versorgung eines Bürgers anschließe und weitere Bettgitter in dem Bereich überprüfe.

22:37 Uhr

Anruf einer Kollegin. Der Rettungsdienst will einen Bürger nach dem Krankenhausaufenthalt zurückverlegen. Ist das machbar bei reduzierter personeller Nachtbesetzung? Welche pflegerischen Aspekte sind zu berücksichtigen? Ich streife meine PSA und Schuhüberzieher ab, verlasse meinen Bereich, um die Aufnahme zu prüfen.

Während meine Schuhe in Richtung „Haus Elm“ leicht joggen, telefoniere ich mit der Leitungsbereitschaft, um alles abzuklären. Fazit: Wir nehmen auf.

0:23 Uhr

Zurück in meinem Hausbereich setzte ich in Windeseile die Sichtkontrollrunde fort. Eine Epileptikerin sinkt bei meinem Eintreffen an der Tür vor mir auf den Boden. Die Bürgerin wollte zur Toilette. Nun ist sie gestürzt. Über das Funknetz bitte ich den nächstgelegenen Kollegen als Verstärkung dazu. Die Bürgerin krampft stark. Ich stürme ins Dienstzimmer, bereite das Bedarfsmedikament vor. Nach der Vergabe heben wir sie ins Bett. Der Anfall dauert an. Ich messe Vitalzeichen, wir bleiben bei ihr, bis sie entspannt und durch die Anstrengung des Anfalls einschläft.

Mein Herz schlägt noch vom Adrenalin, das zwischen Reaktion und Routine bebt.

Anschließend dokumentiere ich die Situation und ich bedanke mich bei meinem Kollegen. Teamgeist. Gut zu wissen, dass ich nachts nicht allein bin!

1:15 Uhr

Während ich mit meinen Sneakers über die Flure der Wohngruppen schleiche, höre ich ein Weinen. Eine Bürgerin hatte einen Albtraum verbunden mit Wadenkrämpfen. Ich entlaste zunächst ihr Bein, versuche beruhigend auf sie einzuwirken. Nach dem Krampf lehnt sie Schmerzmittel freundlich ab. Ich lagere die Bewohnerin mit Lähmungen in eine bequemere Position um und verspreche ihr, bald wieder reinzuschauen.

Regina Yildiz macht Kaffee

2:30 Uhr

Ich brauche dringend Kaffee! Für frische Luft öffne ich während des Brühens die Gruppentür der Küche, die ich parallel versuche aufzuräumen. Es raschelt neben mir, ich bin plötzlich wieder hellwach und fit. Ich blicke irritiert nach draußen in die Dunkelheit. Entwarnung. Nur ein Igel. Das Dorf Neuerkerode lebt eng verbunden mit der Natur- und Tierwelt. Hier gibt es Hühner, Ziegen, Pfaue und vieles mehr.

3:22 Uhr

Ich sprinte erneut durch die Nacht. Ein Funknotruf am anderen Ende des Dorfes. Weitere Nachtdienstmitarbeiter kommen zur Unterstützung angerannt, um die verwirrte Bewohnerin, die sich übergeben hat, wieder ins Bett zu bringen.

Diese Nacht ist wie ein Wettkampf. Mal schleichend auf leisen Tritten, mal wie der Wind! Man benötigt für beides mentale Kraft und Kondition.

3:49 Uhr

Ich nehme meine Versorgungsrunde im Morgengrauen wieder auf und ziehe Schuhhäubchen an. Ich walke mit meinen Turnschuhen durch die Gruppen. Endlich scheint alles still und schlafend. Meine Konzentration schwindet langsam. Ich werde müde und meine Schuhe erscheinen mir schwerer. Instinktiv weiß ich, dass Mut hier nicht die Abwesenheit von Angst ist. Es ist die Entscheidung, eine herausfordernde, längere oder härtere Strecke anzunehmen.

4:37 Uhr

Das Diensttelefon klingelt erneut. Diesmal möchte eine Kollegin einen Schwank gegen die Müdigkeit im Einzeldienst erzählen. Der Nachtdienst in Neuerkerode ist eine eingeschworene Gemeinschaft mit hohem Zusammenhalt. Besondere Menschen, die diesen sensiblen Dienst wertschätzend annehmen. Nicht immer die 08/15-Standardmitarbeiter. Wir sind junge Mütter nach der Elternzeit, typische Nachteulen, deren Biorhythmus schon immer so schlug, LGBTQIA*, Frauen und Männer oder ziemlich durchtätowierte, Dreadlocks tragende, freakig aussehende und gepiercte Persönlichkeiten. Ich schätze jeden Einzelnen. Auch von ihnen lebt dieses inklusive Dorf. Liebeskummer, Schicksale des Lebens oder freudige Ereignisse werden gern in dieser diversen Gruppe geteilt.

Regina Yildiz an der Tür

5:30 Uhr

Die Nacht nimmt ihren Lauf, die Sonne steigt langsam auf und ich beginne vor der Dokumentation meine letzte Versorgungsrunde.

6:00 Uhr

Die Übergabe zum Tagdienst steht bevor. Es wird Zeit, sich im Funknetz von allen Nachtdienstkollegen zu verabschieden, danke zu sagen und einen guten Heimweg zu wünschen. Aber auch, um sich bewusst zu machen, was meine Schuhe bisher bewirkten. Ich blicke auf meine müden Füße hinab. Seit meiner Entscheidung, in die Eingliederungshilfe in Neuerkerode zu wechseln, habe ich viel Körpergewicht verloren. Im Stillen bedanke ich mich für diese Nacht, jede neue Herausforderung, die Veränderung bewirken kann. Ich weiß jetzt, dass sich jede Nacht lohnt. Es verläuft nicht immer turbulent, es gibt auch ruhige Zeiten und Pausen wie eben in einem guten Musikstück.

Der richtige Rhythmus lässt jeden Lauf gelingen!

* Abkürzung der englischen Wörter Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual/Transgender, Queer, Intersexual und Asexual.

Regina Yildiz und Akten
Regina Yildiz am Computer
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