Ein lohnender Weg

Wie groß ist die Verzweiflung, wenn Krieg, fehlende Anerkennung einer Minderheit, Meinungsäußerung oder Verfolgung, eine aussichtslose Zukunft oder sogar den Tod bedeuten und Menschen ihre Heimat deswegen verlassen? Für Westeuropäer, die in den vergangenen 77 Jahren in Frieden lebten, ist das kaum vorstellbar.

Für Rohollah Rezaie war das Realität. Er hat 2015 als Minderjähriger den Mut gefasst, seine Familie zurückzulassen und ist nach Deutschland geflüchtet. Ungefähr einen Monat lang dauerte die Flucht: Vom Iran führte ihn ein beschwerlicher Weg über Berge in die Türkei, bis nach Istanbul. Von dort in den Süden des Landes, um mit einem mit Menschen überladenen Schlauchboot über das Mittelmeer auf die griechische Insel Kos zu gelangen. Von dort ging es nach einem Aufenthalt im Auffanglager weiter nach Österreich, dann über München nach Kassel bis nach Königslutter-Beienrode. Rohollah erreichte Deutschland kurz vor seinem 16. Geburtstag. So leicht sich die Stationen der beschwerlichen Reise hier auflisten lassen, umso schwerer wirken – auch sieben Jahre später – diese Eindrücke nach, als er mit Tränen in den Augen davon erzählt.

Rohollahs Eltern flüchteten, bevor er geboren wurde, vor den Taliban aus ihrer Heimat Afghanistan und strandeten im Iran. Dort wurde Rohollah als jüngstes von zehn Geschwistern geboren. Er fand während seiner Kindheit und Jugend nie Anschluss: „Wir waren eine kleine Gruppe Afghanen im Iran. Neun Jahre bin ich dort zur Schule gegangen und wurde – wie meine Freunde auch – leider immer wieder gemobbt. Auf der Straße war es für uns gefährlich. Wir wurden beschimpft, geschlagen und bestohlen.“ Ein Zustand, den der Teenager ändern wollte. Er sah für sich keine Zukunft im Iran. Seine Mutter weihte er in seine Fluchtpläne ein. Seinen Vater hat er erst angerufen, kurz bevor er die Grenze zur Türkei überquerte – einerseits aus Respekt und andererseits aus Angst, sein Vater könnte ihm das Ganze ausreden, voller Sorge um seinen Sohn.

Die ersten Monate im neuen Land erlebte Rohollah, zusammen mit anderen minderjährigen Geflüchteten, im damaligen Seminar- und Tagungshaus im Park des Ritterguts Beienrode. Ein wunderbarer und ruhiger Ort, um anzukommen, das Land, die Leute und die Kultur kennenzulernen. Ein Jahr lang ging er in eine Sprachlernklasse auf das Gymnasium am Bötschenberg in Helmstedt und spricht seitdem sehr gut Deutsch. Dort beendete er die Schule mit dem Realschulabschluss und entschied sich für eine Ausbildung – auch weil sein Asylverfahren erst einmal abgelehnt wurde.

Während der Berufswahl erinnerte sich Rohollah an die Zeit in Beienrode und das dort ansässige Seniorenheim Haus der helfenden Hände – und an die Pflege der Großeltern in seiner Heimat.

Rohollah ist ein Optimist und nimmt die Dinge, wie sie kommen: „Für mich war 2021 nach vielen Höhen und Tiefen ein wirklich gutes Jahr: Ich habe meine Ausbildung bestanden, den Führerschein gemacht, mir ein Auto gekauft, den Aufenthaltstitel bekommen und konnte mir eine eigene Wohnung mieten.“

Wenn er auf sein Erlebtes und Erreichtes zurückblickt, ist er sich ganz sicher: „Ja, ich würde das wieder so tun! Es hat sich gelohnt, den Weg zu gehen. Ich konnte hier zur Schule gehen, Deutsch lernen, ich arbeite und habe ein ruhiges Leben, fernab von der Angst und Unsicherheit im Iran.“ Auch seine Eltern, die er sehr vermisst, sind nach aller Anfangsskepsis sehr stolz auf ihn. Sie stehen im Kontakt und telefonieren per Video häufig miteinander. Seit sieben Jahren haben sie sich nicht mehr in die Arme nehmen können. Das möchte Rohollah ändern. Sein nächstes großes Ziel ist, seine Eltern zu besuchen.

Zufluchtsort Rittergut Beienrode

Bereits vor über 70 Jahren war das Haus der helfenden Hände ein Zufluchtsort. Zunächst stand das Haus, gegründet durch das Engagement von Prof. Hans-Joachim Iwand, für die Linderung der Not der Flüchtlinge aus dem ehemaligen deutschen Osten, danach arbeitete es für die Verständigung zwischen Deutschen und den Völkern Osteuropas. Und in den 70er Jahren trafen sich mehr als 3000 Menschen aus dem In- und Ausland, die ihre Arbeit als Friedensarbeit begriffen, zu den jährlich stattfindenden Pfingst-Treffen auf dem Rittergut.

Mit der Flüchtlingsbewegung nach Europa im Jahr 2015 trafen wieder Flüchtlinge, diesmal Jugendliche aus dem Nahen Osten, mit der Hoffnung auf Frieden, im Rittergut Beienrode ein – unter ihnen Rohollah Rezaie. Und nun keine sieben Jahre später flüchten Ukrainer vor dem Krieg in ihrer Heimat. Einer kleinen Zahl derer stellt das Rittergut Beienrode Gästezimmer zur Verfügung.

Martina Redlin-Rückert, Geschäftsführerin Haus der helfenden Hände, erinnert an Worte von Iwand: „Er schrieb in einem Brief folgenden Satz, der aktueller nicht sein könnte: ´Eine persönliche menschliche Tat der Liebe bedeutet mehr, als alle organisierte Hilfe.` Dem kann ich nur zustimmen. Wem es gelingt dem Menschen ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern, der verbessert die Welt und trägt zum Glück der Menschen bei. Vielleicht gibt es gerade dann eine besondere Sensibilität für das Glück, wenn man krank, alt oder behindert, oder aber auf der Suche nach Zuflucht und Hoffnung ist.“

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