Kultursensibilität fördern

In Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und in der ambulanten Pflege nimmt der Anteil an Patienten und Bewohnern, die aus anderen Kulturkreisen kommen, stark zu. Für die Pflege bedeutet das, dass immer mehr Menschen ambulant oder in Pflegeheimen versorgt werden, die sich eine Pflege wünschen, die ihre kulturelle Identität berücksichtigt: die kultursensible Pflege. Aber wie gelingt es innerhalb der Gesellschaft diesem Thema mehr Raum zu geben, welche Rolle spielt dabei Nähe und wie lässt sich kultursensible Pflege nachhaltig etablieren? Wir haben Seda Magnor, Psychologische Psychotherapeutin, interviewt, um diese Fragen zu klären. Sie bietet unter anderem kultursensible Beratung für Menschen aus dem Gesundheitswesen an und führt Workshops zum Thema durch.

Wie erklären Sie kultursensible Pflege in ein paar Sätzen?

Grundsätzlich können wir nicht von der einenkultursensiblen Pflege reden, denn es gibt keine Musterlösung. Die Kultursensibilität ist eine Grundhaltung in der Begegnung mit einem Menschen. Kultursensibilität erfordert interkulturelle Kompetenz, was nicht heißt, dass man über alle Kulturen Wissen angeeignet haben sollte. Vielmehr setzt es die Bereitschaft voraus, das eigene kulturelle Wissen zu erweitern und die eigene Kulturgebundenheit zu reflektieren sowie die Fähigkeit zu Empathie und Wertschätzung. Wichtig wäre in meinen Augen außerdem, eine stetige fachkundige Reflexion der eigenen pflegerischen Arbeit.


Kultursensible Pflege benötigt in unserer Gesellschaft, die immer multikultureller wird, mehr Aufmerksamkeit. Wie können wir erreichen, dass dies gelingt?

Der Pflegeprozess sollte sich ganz individuell an den Bedürfnissen des Patienten orientieren – egal welcher Kultur oder Religion diese Person angehört. In der professionellen Beziehungsgestaltung ist es notwendig, dass das Pflegepersonal die Bereitschaft zeigt, die eigene Arbeit zu reflektieren. Es geht nicht darum vorurteilsfrei zu sein, sondern der eigenen Denkweisen und Vorurteile bewusster zu werden. Die interkulturelle Kompetenz in der Pflege bedeutet eine Anerkennung und Förderung der vielfältigen Ressourcen der Migranten. Da es aber nicht „den Migranten“ per se gibt, benötigt die kultursensible Pflege die Bereitschaft bei jedem einzelnen Pflegebedürftigen auf sein individuelles Verständnis in Bezug auf Krankheit und Tod einzugehen. Es braucht eine wertschätzende neutrale Haltung auf fremde Sichtweisen, auf Krankheit und Gesundheit. Es ist unbedingt notwendig, nach den individuellen Krankheitskonzepten zu fragen. Dafür ist es zwingend, sich von dem Gedanken einer dominanten (bzw. besseren) Gesellschaft, Kultur oder gar Rasse zu verabschieden. Erst dann kann eine wertschätzende und neugierige Haltung jedem Menschen gegenüber entstehen. Ein Beispiel aus meiner praktischen Arbeit: Ich weiß, dass z.B. ein magisch-religiöses Verständnis von Krankheit bei türkischen Migranten vorhanden sein kann, dennoch muss ich dies bei zwei unterschiedlichen Personen aus der Türkei behutsam erforschen. Denn die Antwort kann je nach soziokulturellem Hintergrund ganz anders ausfallen. Nur weil beide türkeistämmig sind, bedeutet es nicht, dass beide Personen ihre Erkrankung magisch-religiös erklären.

Es braucht eine wertschätzende neutrale Haltung auf fremde Sichtweisen, auf Krankheit und Gesundheit."


Seda Magnor

Welche Rolle spielt Nähe in der kultursensiblen Pflege?

Evolutionsbedingt sucht der Mensch die Nähe zu dem, was ihm vertraut ist. Dies sicherte seit Beginn der Menschheit das Überleben: Bei allem was mir fremd ist, sollte ich erstmal vorsichtig sein, denn es könnte mir mein Leben kosten. Das was wir gut kennen, gibt uns ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Wir wissen, was passiert, wie was abläuft und was als nächstes kommt.
Wie jemand mit einer fremden Situation oder Person umgeht, hängt sehr von der Bereitschaft ab, sich mit dem Fremden auseinander zu setzen. Dies braucht in hohem Maße auch die Bereitschaft zur Selbstreflexion. Das erfordert von dem Personal in der Pflege die Bereitschaft, die eigenen Reaktionen in schwierigen Situationen zu reflektieren. In der psychotherapeutischen Arbeit spricht man dann von einer therapeutischen Übertragung und Gegenübertragung. Vereinfacht ausgedrückt: Es ist für einen Therapeuten unerlässlich, sich mit den eigenen Gefühlen, Reaktionen und Haltungen einem Patienten gegenüber auseinander zu setzen und sich dessen bewusst zu sein. Wenn wir es als Fachpersonal schaffen, ganz egal welcher Berufsgruppe wir angehören, zu wissen, warum wir bei manchen Menschen oder Situationen z. B. vermehrt mit Hilflosigkeit, Ablehnung oder mit Rückzug reagieren, dann können wir viel bewusster und professioneller die Beziehung gestalten. In meiner langjährigen therapeutischen Arbeit habe ich die Erfahrung gemacht, dass dies eine wohlwollende Atmosphäre schafft, die eine Öffnung und ein Vertrauen meines Patienten mir gegenüber ermöglicht. Ich bin der festen Überzeugung, dass mit einer guten Schulung des Pflegepersonals das Gefühl der Distanz und des Fremdseins deutlich reduziert werden kann.


Wie lässt sich Ihrer Meinung nach, kultursensible Pflege nachhaltig etablieren?

Eine nachhaltige Etablierung der kultursensiblen Pflege setzt voraus, bereits in der Ausbildung und Schulung des Pflegepersonals eine kultursensible Haltung anzuregen und, dass Gesundheitseinrichtungen ihre ethische Grundhaltung diesbezüglich sehr offen mit ihren Mitarbeitenden kommunizieren. Gesundheitseinrichtungen müssen die Bereitschaft haben, Kultursensibilität ihrer Mitarbeitenden zu fördern. Dies kann beispielsweise mit Etablierung von regelmäßigen Supervisionsstunden erfolgen, in denen die Mitarbeitenden ganz offen über ihre individuellen Schwierigkeiten bei der Pflege von Menschen sprechen können und professionelle Unterstützung in der Selbstreflektion bekommen. Sich von der Dominanz einer Kultur zu verabschieden erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kultur und der Reflexion der eigenen Kulturgebundenheit.
Kultur – egal, ob gesellschaftlich oder familiär – hat keine konstante feste Struktur, sondern ist stetig im Wandel. Ein Beispiel: Die herrschende Religion in Europa ist das Christentum, aber in Deutschland feiert man ganz anders Weihnachten als in Italien oder Weißrussland, obwohl alle drei Länder sich dem Christentum zugehörig fühlen. Ein weiteres Beispiel: Ein syrischer oder ein schwarz-afrikanischer Moslem lebt den Islam ganz anders als ein türkischer Moslem. Dies aber kann ich nur dann erfahren, wenn ich in einer wertschätzenden neutralen Haltung nach den individuellen Lebensweisen frage. Das beeinflusst die Beziehungsgestaltung positiv, erzeugt Nähe und eine wohlwollende, anerkennende Arbeitsatmosphäre.

Zur Person

Seda Magnor ist1970 in Ankara / Türkei geboren. Mit zehn Jahren zog sie nach Berlin. Nach dem Abitur in der Hauptstadt immatrikulierte sie sich für das Studium der Psychologie in Braunschweig. 1997 nach dem Abschluss des Studiums als Diplom-Psychologin arbeitete sie bis 2008 als klinische Psychologin in stationären psychiatrischen Einrichtungen. Seit 2010 hat sie ihre eigene Praxis in Meine als Psychologische Psychotherapeutin mit einer Approbation in Verhaltenstherapie. Ihre Schwerpunkte sind Systemische Familientherapie, Psychotraumatologie, Verhaltenstherapie, Transkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Psychotherapie unter Einsatz von Sprachmittlern sowie Kultursensible Beratung für Menschen aus dem Gesundheitswesen.

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