Hoch zur See nach Helgoland

Im Herbst 2022 hatte Eberhard Grunwald Geburtstag. Als ich ihn fragte, was er sich wünsche, antwortete er mit leiser Stimme „Hubschrauber“. Ich fragte, ob er Lust auf einen Hubschrauber-Rundflug habe, was er bejahte. Also schaute ich im Internet nach passenden Angeboten und präsentierte ihm kurz darauf erste Ergebnisse. Unter anderem war dort das Bild eines Flugzeuges abgebildet, auf das er zeigte. Okay, dann also einen Rundflug mit einem Flugzeug? Ich startete eine neue Suche: „Rundflug Flugzeug Braunschweig“. Schnell wurde mir dann ein Flug von Braunschweig nach Helgoland mit einer Cessna (Kleinflugzeug) vorgeschlagen.

Ein Reisebericht von Jonas Boos und Eberhard Grunwald

Eberhard – ein Rentner, der eher zurückgezogen lebt, den die Anwesenheit vieler Personen verunsichert, weshalb er Gruppenaktivitäten lieber meidet und folglich nur selten in den Genuss von Ausflügen kommt – ist einer derjenigen, die vor ein paar Jahren eine Entschädigungszahlung von der Stiftung Anerkennung und Hilfe bekommen haben. Diese Zahlung soll das erfahrene Leid, das in den Nachkriegsjahren (in der BRD bis 1975 bzw. in der DDR bis 1990) in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie in psychiatrischen Einrichtungen an den betroffenen Personen entstanden ist, zumindest in Teilen wiedergutmachen. Und so kam es, dass sich viele ältere Menschen mit Behinderung in ganz Deutschland auf einmal Dinge leisten konnten, die ihnen ihr Leben lang verwehrt blieben. Träume konnten plötzlich wahr werden.

Ein Traum wird wahr...

Also nahm ich Kontakt zum Piloten, mit Namen Marcus, auf, vereinbarte einen Termin und wir übergaben Eberhard sein Geschenk. Eigentlich wollten wir kurz nach dem Geburtstag gen Helgoland aufbrechen, leider machte uns das Wetter aber einen Strich durch die Rechnung. Wie an diesem Tag erging es uns in den kommenden Wochen und Monaten immer wieder. Mal war das Wetter bescheiden, mal gab es private oder dienstliche Hindernisse oder irgendjemand war krank. Insgesamt mussten wir die Flüge  zehnmal verschieben. Aber nun, am ersten Juni, war es dann so weit. Das Wetter sah in den Tagen zuvor gut aus, niemand war krank. Dann kann es ja losgehen! Wir verabredeten uns für den kommenden Morgen um 10 Uhr in Salzgitter-Drütte auf einem Flugplatz unweit der Salzgitter-AG.

Nach etlichen Telefonaten und WhatsApp-Konversationen, trafen wir Marcus am nächsten Morgen nun das erste Mal im realen Leben. Gleich zu Beginn machte er deutlich, dass die Wetterbedingungen sich wieder eher verschlechtert als verbessert hätten. Wider Erwarten sank die Wolkenuntergrenze weiter, anstatt zu steigen. So konnten wir nicht starten. Was also tun? Wieder einen neuen Termin suchen und nach Hause fahren? Abwarten? Wir entschieden uns für letzteres. Vielleicht würde der Wettergott es ja gut mit uns meinen. Aber das Wetter wurde nicht besser. Erst gegen 14 Uhr ließen die Wolken einen Flug zu, wenn auch in der minimal möglichen Flughöhe. Wir diskutierten, ob wir starten wollen oder ob wir es doch lassen sollten. Wir entschieden uns dafür. Allerdings könne er nicht mit Sicherheit sagen, ob wir dann auch wieder in Helgoland starten können. Wenn es blöd läuft, müssten wir uns ein Hotelzimmer nehmen. Dann ist das eben so. No risk, no fun. Lass uns fliegen!

Helgoland in Sicht

Nachdem die Maschine vollgetankt und gründlich durchgecheckt war, ging alles recht schnell. Wir luden die Sachen aus dem Auto ins Flugzeug, zogen die Schwimmwesten an (wir flogen schließlich über das offene Meer), setzten die schallisolierenden Headsets auf, schnallten uns an und schließlich machte Marcus gegen 14.30 Uhr den Motor an. Eberhard stand die Aufregung förmlich ins Gesicht geschrieben, versicherte aber mehrmals, dass es ihm gut gehe und dass er bereit sei für den Flug. Wir rollten auf die Startbahn zu, machten noch ein paar letzte Checks und dann ging es endlich los! Nach wenigen Sekunden hoben wir vom Boden ab.

Atemberaubender Anblick

Zunächst am beeindruckenden Stahlwerk der Salzgitter AG vorbei, flogen wir nun auf direktem Weg Richtung Nordsee. Für Eberhard war dieses Erlebnis eine völlig neue Erfahrung. Das Ruckeln, der Lärm und die ungewohnte Sicht aus der Vogelperspektive waren für ihn gänzlich neue Eindrücke, die erst einmal verarbeitet werden mussten. So war er die erste Dreiviertelstunde sichtlich angespannt – die Tüte, für den Fall der Fälle, kam glücklicherweise nicht zum Einsatz. Im Gegenteil: Als wir langsam die Küste erreichten, schien alle Aufregung von ihm abzufallen. Mit bestem Blick auf Bremerhaven verließen wir allmählich das Festland und flogen auf das wunderschöne Wattenmeer zu. Aus der Luft waren die unendlich wirkenden Weiten des ostfriesischen Watts mit seinen vielen kleinen und großen Sandbänken, Inseln und Strömungskanälen ein atemberaubender Anblick. Die geballte Kraft der Natur war hier zum Greifen nahe. Allein hierfür hätte sich der Flug schon gelohnt. Aber es sollte noch weitergehen.  

Helgoland, wir sind da

Als wir das Wattenmeer hinter uns gelassen hatten, flogen wir aufs offene Meer zu. Nach einigen Minuten war am Horizont eine kleine Insel zu erahnen. Helgoland. Endlich war sie da. Eine kleine grüne Insel irgendwo mitten in der Nordsee. Ein halbes Jahr, nachdem wir den ersten Versuch unternommen hatten, die einzige deutsche Hochseeinsel zu bereisen, haben wir nun endlich unser Ziel erreicht. Marcus steuerte die Landebahn an. Die frische Brise der Nordsee ließ das Flugzeug im Landeanflug ordentlich schaukeln, aber Marcus landete die Maschine souverän auf der von den Helgoländern genannten „Düne“ – einer vorgelagerten Insel, auf der sich der Flugplatz befindet. Gegen 16 Uhr betraten wir dann endlich Helgoländer Boden. Und Eberhard strahlte, wie ich es bis dato nur selten erlebt hatte. Wir gingen am Strand entlang Richtung Fähranleger. Eberhard nahm einen tiefen Zug der unverkennbaren Nordseeluft und sagte: „Schön!“ Mit der nächsten Fähre fuhren wir auf die Hauptinsel. Sofort machten wir uns auf den Weg zu den berühmten, roten Felsen, die übersäht sind mit etlichen brütenden Vogelarten. 

Auf der Insel gestrandet

So richtig abschalten konnten wir jedoch nicht: Spätestens um 18.30 Uhr hätten wir wieder abfliegen müssen, da der Flugplatz dann schließt. Marcus rief mich an, um mit mir über die Option einer Hotelübernachtung zu sprechen. Er könne Zimmer für uns buchen. Das Wetter war mittlerweile zwar besser, ein Rückflug also ohne weiteres möglich, aber die Zeit saß uns im Nacken. Also führte ich mehrere Telefonate: Die Wohngruppe und meine Frau sollten darüber Bescheid wissen, ehe ich das entscheide. Passt. Ich rief ihn zurück: „Okay, ist zwar etwas verrückt, aber mach mal!“ Wir hatten zwar keine Wechselklamotten, geschweige denn Zahnbürsten oder andere Hygieneartikel dabei, dafür konnten wir uns nun doch Zeit lassen, in aller Ruhe die Insel zu erkunden. Nachdem wir die wunderschöne Landschaft hinter uns gelassen haben, gingen wir zurück ins Oberland, den oberen Teil der Siedlung auf Helgoland.

Für die Nacht einrichten

Wir kauften Zahnbürsten, kleinere Snacks und ein Willkommensbier für Marcus, der bis hierhin immer noch auf der „Düne“ verweilte und mit der kleinen Fähre kurze Zeit später eintrudeln wollte. Am Fähranleger nahmen wir ihn in Empfang, suchten die Hotelzimmer auf, legten die wenigen Sachen ab, die wir dabeihatten und suchten ein schönes Restaurant, wo wir den Tag Revue passieren und langsam entspannen konnten. Leider gab es gegen 20.30 Uhr nur noch in einem kleinen Imbiss warme Kost. Nun gut, dann eben Burger. Wir aßen die Burger und zogen weiter in eine nahegelegene Bar, wo wir den Abend langsam ausklingen lassen wollten. Ein paar Kaltgetränke später machten wir uns dann auf in die unterschiedlichen Hotels – unser Hotel war in Ober-, das von Marcus in Unterland. Kurz darauf erhielt ich einen Anruf. Wieder Marcus: „Du sag mal, Jonas, hatte ich meine Tasche vorhin dabei?“ „Ich glaube, ja!“ „Mist! Flugbuch, Tablet (wichtig für die Navigation) und viele andere Wertgegenstände sind darin.“ Offensichtlich hat er sie irgendwo liegen lassen. In der Bar lag sie jedenfalls nicht. „Marcus, die wird sicher nicht geklaut worden sein. Morgen finden wir die!“ Erschöpft von dem Tag und dennoch aufgewühlt von der Tatsache, dass wir am nächsten Tag vielleicht gravierende Probleme bekommen würden, zurückzufliegen, sollte die Tasche nicht wiederauftauchen, versuchten Eberhard und ich in unserem Doppelbett die Augen zu schließen und einzuschlafen.

Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass diese Reise für uns ein richtiges Abenteuer war, von dem wir noch lange erzählen werden.


Jonas Boos, Wohngruppe Mühlenhof, Neuerkeröder Wohnen und Betreuen GmbH

Am nächsten Morgen dann war der ganze Stress passé. Der Blick auf die strahlend blaue Nordsee, ließ jegliche Sorgen verschwinden. Herrlich. Wir machten uns fertig und schritten zum reichhaltigen Frühstück, um uns für den Tag zu stärken. In der Zwischenzeit gab Marcus Entwarnung: Die Tasche war wieder da. Der Imbissbetreiber hatte sie für ihn aufgehoben. Zum Glück: Denn wie sich herausstellte, war außerdem auch der Flugzeugschlüssel in der Tasche. Nachdem wir das Hotel verlassen hatten, trafen wir uns wieder mit Marcus und machten uns gemeinsam auf den Weg zur Fähre, um zurück zur „Düne“ zu fahren. Dort angekommen, machten Eberhard und ich bei bestem Wetter noch einen ausgiebigen Strandspaziergang. Wir staunten nicht schlecht, als uns auf einmal mehrere tief-dunkle Augen anschauten, die zwischen den Wellen herausblickten. Seehunde. An den Menschen gewohnt, drehten sie vor dem Strand ihre Kreise. Welch krönender Abschluss! Im Flugplatz-Restaurant aßen wir noch ein sehr leckeres Mittagessen, ehe wir uns gegen 14 Uhr wieder in die Maschine setzten und gen Heimat aufbrachen. Diesmal war Eberhard deutlich entspannter – er wusste schließlich was auf ihn zukam.

 

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