Die Beziehungsarbeit steht an oberster Stelle

Menschen im Autismus-Spektrum sind oft der Unwissenheit ihrer Mitmenschen oder sogar Vorurteilen ausgesetzt. Zum heutigen Autistic-Pride-Day geben Bürger:innen Statements darüber ab, was sie ärgert, freut, bewegt und motiviert.

Kennen Sie Linux? Nun, ich denke, mir geht es da wie vielen von Ihnen auch: Wir alle haben wohl schon einmal von dem Betriebssystem gehört, aber gearbeitet und sich damit auseinandergesetzt haben vermutlich nur die wenigsten. Ähnlich ist es für die meisten im Umgang mit Menschen mit Autismus bzw. im Autismus-Spektrum.

Zum Autistic-Pride-Day, der seit 2005 regelmäßig am 18. Juni gefeiert wird und für gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen im Autismus-Spektrum einsteht, haben sich die Bürger:innen der Autismus-Wohngruppe in Königslutter eine besondere Aktion ausgedacht, die auch Teil dieses Beitrags sein soll. Jeden Buchstaben des Wortes "Autismus" haben sie zum Anlass für ein Statement genommen. Sie berichten, was sie ärgert und freut, was sie bewegt und motiviert, was sie sich wünschen und wie sie ihre Welt sehen.

In einem anschließenden Kurzinterview mit Konstantin Marwedel, Hausleitung der Wohngruppe in Königslutter, geht es um die Arbeit mit Menschen im Autismus-Spektrum und auch darum, wie Autismus begreifbar gemacht werden kann. Ausgehend von einem Zitat, das in Fachkreisen gerne verwendet wird, hat er ein gutes Beispiel angeführt: Es sei ein bisschen wie mit den Betriebssystemen Windows und Linux, erklärt er im Interview.


Im Frühjahr hat der NDR in einem Fernsehbeitrag ebenfalls über die Autismus-Wohngruppe berichtet. Hier gelangen Sie zum Link.

Autor: Thomas Pöllmann
Fotos: Bernhard Janitschke

Sina Martens, 29 Jahre alt, seit 2014 im ASW

"A" - wie Arbeitsfähig

"Ich identifiziere mich mit meinem Arbeitsplatz und meiner beruflichen Tätigkeit. Ich bin auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeitsfähig und habe eine unbefristete Anstellung als Kauffrau für Büromanagement. Ich bin in der Buchhaltung tätig. Mein besonderes Interesse und meine Fähigkeiten im Umgang mit Zahlen sind hier ein großer Pluspunkt."

Pascal Krüger, 26 Jahre alt, seit 2021 im ASW

"U" wie Unterschätzt

"Ich bin vielen Menschen begegnet, die sagen 'Autisten können gar nichts'. Darunter waren auch Lehrer:innen, die mich als dumm angesehen haben, obwohl ich fachlich immer richtige Beiträge geleistet habe. Wir sind Menschen die ebenso intelligent und schlau sind. Auch unser Humor und der Umgang mit Ironie wird oft nicht wahrgenommen und es wird gesagt, wir können nicht lachen und lustig sein. Unsere Empathie wird auch unterschätzt. Wir haben sehr feine Antennen für Gefühle anderer Menschen."

 

 

Marielena Linke, 24 Jahre alt, seit 2016 im ASW

"T" wie Teamplayer

"Es wird immer gesagt, jeder Autist ist nur für sich und macht sein eigenes Ding. Wir können aber sehr wohl sehr gut mit anderen zusammenarbeiten. Wir sind zielgerichtet, ehrgeizig und halten uns an die bestehenden Regeln, wenn wir eine Aufgabe haben, erledigen wir diese. Es kommt natürlich auch auf die richtigen Leute in der Gruppe an. Sind andere Teilnehmer nicht verlässlich und machen ihre Aufgaben nicht kann auch eine Gruppenarbeit schief gehen."

 

 

Maximilian Tiede, 26 Jahre alt, seit 2019 im ASW

"I" wie In der eigenen Welt lebend

"Ich habe meine eigene Welt, um mich, vor allem in Stresssituationen, kurz aus der Realität zu beamen. Sie ist für mich eine Art Rückzugsort, an dem ich ich selbst sein kann. Ich schütze mich selbst an diesem Ort, um die Realität für mich ordnen zu können und wieder besser klarzukommen. Manchmal ist es auch einfach ein bisschen wie 'Licht ausmachen im Kopf'." - Maximilian Thiede und Sina Martens.

Konstantin Marwedel, seit 2018 Hausleitung des Wohnangebots in Königslutter.

"S" wie Strukturen

"Ich habe durch die Arbeit jeden Tag einen festen Ablauf der sich kaum von anderen Tagen unterscheidet. Ich finde das gut. Wenn ein Plan scheitert und die Struktur durcheinanderbringt, fällt es mir bei der Arbeit schwer, flexibel zu reagieren. Ich verbringe dann sehr viel Zeit mit Denken - und mache mir zu viele Gedanken. Dadurch benötige ich manchmal zu viel Zeit für eine Aufgabe. Das strukturelle Denken ist aber eigentlich ein Pluspunkt und in der Arbeitswelt von Vorteil.Nicht nur die Zeitpläne, auch die örtliche und räumliche Umgebung spielen eine wichtige Rolle bei den Strukturen."

Das Zitat stammt von Pascal Krüger

Bjarne Ludewig, 20 Jahre alt, seit 2018 im ASW

"M" wie Menschengebunden

"In allen Bereichen habe ich zwei bis drei Menschen, die ich sehr gut leiden kann und die ich nah an mich heranlasse. In der Familie, in der Fußballmannschaft, im Freundeskreis, bei der Arbeit und auch in der Wohngruppe gibt es Menschen, denen ich mich anvertraue. Früher war ich die meiste Zeit für mich alleine, mittlerweile brauche ich immer jemanden um mich herum - ich bin nicht mehr so gerne alleine. Das hat sich durch meinen Einzug in die Wohngruppe sehr verändert. Ich finde, das ist eine positive Entwicklung. Hier begegnen mir alle Menschen auf Augenhöhe, ich kann über ähnliche Probleme sprechen und teile mit einigen dieselben Interessen."

 

Janik Biskupek, 24 Jahre alt, seit 2016 im ASW

"U" wie Unsympathisch

"Es ist ein gängiges Vorurteil, dass Autisten als unsympathisch gelten. Dabei hat es den Anschein, dass wir andere von oben herab behandeln, arrogant agieren und uns für etwas Besseres halten. Wir können auch keine Ironie, keinen Sarkasmus und lachen nie. Das hat bestimmt mit der ehrlichen und direkteren Kommunikation zu tun. Auch mit der Detaillverliebtheit vieler Autisten und dem Drang, Vieles immer verbessern zu müssen."

 

 

 

Jane Bräuer, 20 Jahre alt, seit 2020 im ASW

"S" wie Spezialinteressen

"Jeder hat seine ganz eigenen Spezialinteressen. Es gibt auch nicht nur das eine Spezialinteresse, es kann mehrere geben. Ich z.B. beschäftige mich viel mit englischer Literatur. Für mich ist diese Beschäftigung eine Entspannungsmöglichkeit. Ein Spezialinteresse zeichnet sich durch eine intensive und detaillierte Beschäftigung mit einem Themengebiet aus, dies kann auch fachorientiert sein."

 

 

 

 

„Autism - It's not a processing error; it's just another operating system.“


Redewendung in Autismus-Fachkreisen

Kurzinterview mit Hausleitung Konstantin Marwedel

Fragen:

Was ist Autismus bzw. wie lässt er sich begreifen?

„Autism - It's not a processing error; it's just another operating system.“ (Frei übersetzt: Autismus ist kein Betriebsfehler, es ist ein weiteres Betriebssystem. Es handelt sich um ein in Fachkreisen geläufiges Zitat. Anmerkung d. Red.).

"In meinen Augen ist dieses Zitat eine der treffendsten Aussagen im Bereich des Autismus-Spektrum. Wird Autismus als Neurodiversität gesehen, führt kein Weg am Blick auf das Neurotypische vorbei. Bei den im Zitat erwähnten Betriebssystemen wäre zum Beispiel Windows auf der einen, der neurotypsichen, und Linux auf der anderen, der neurodiversen, Seite. Windows kennt nahezu jeder, kann durch einen kurzen Lernprozess gemeistert werden und ist für die Anwendungen der breiten Masse ausreichend. Es gibt auch relativ wenige unterschiedliche aktuelle Versionen. Linux hingegen ist mit seinen unzähligen Versionen für den  normalen PC-Anwender ein schier nicht zu durchdringender Dschungel. Jede Version hat seine individuellen Vorteile. Die Bedienung und der Umgang mit Linux und den zugehörigen Terminals und Programmierfenstern ist in den meisten Fällen um ein Vielfaches komplizierter und es wird viel Zeit und Geduld benötigt, sich mit der Materie auseinanderzusetzen und diese zu verinnerlichen. 

Ähnlich verhält es sich in meinen Augen mit dem Autismus-Spektrum und der neurotoypischen Wahrnehmung. Das Spektrum an sich mit seinen unzähligen Facetten individueller Ausprägung in Wahrnehmung, Kommunikation, Interaktion und vor allem Fähigkeiten, fordert dazu auf, sich intensiv mit den jeweiligen Ausprägungen und Wahrnehmungen auseinanderzusetzen, diese zu verstehen und durch gezielte Förderung zu unterstützen. Diese Förderung, Unterstützung und Begleitung funktioniert nicht einfach so, indem wir auf den „An-Knopf“ drücken. Vielmehr ist es ein Kennenlernen und Ergründen, der sich auf der Hardware befindenden Software. Und dieses Ergründen und der Aufbau tragfähiger Beziehungen benötigt Zeit, manchmal einige Wochen, manchmal einige Monate und manchmal auch Jahre. 


Wie sehen Förderung, Unterstützung und Begleitung aus? Welche Hilfsangebote benötigen die Bürger:innen?

"Wie schon gesagt ist es ein stetiges Kennenlernen und Ergründen der Bürger:innen. Dazu gehört etwa die individuelle Unterstützung bei der Umsetzung alltäglicher Aufgaben, z.B. dem Einkaufen, Wäsche waschen oder auch die Hilfe bei der Suche nach Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Wichtig ist dabei eine engmaschige Einhaltung der individuellen Strukturen sowie eine sinnhafte und nachvollziehbare Begründungen für Aufgaben. Ansonsten versuchen die Kolleg:innen und ich unseren Bürger:innen einen strukturierten Tagesablauf zu bieten und entsprechend Angebote für die Freizeitgestaltung zu machen."


Wie sehen die Zielsetzungen in Ihrer Arbeit mit den Bürgern aus? Worauf kommt es an?

"An oberster Stelle steht bei uns die Beziehungsarbeit mit den Bürger:innen. Ohne tragfähige Beziehung ist eine erfolgreiche Zusammenarbeit nicht möglich. Um unsere Ziele wie Verselbstständigung, etwa beim Aufbau eigener nachhaltiger Strukturen vor allem im Bereich der Haushaltsführung, Ausbildungs-/Arbeitssuche oder Gestaltung der Freizeit zu realisieren, bedarf es engmaschiger und vertrauensvoller Beziehungen zueinander. Einer der größten Faktoren in Zusammenarbeit ist die Zeit. Unser Credo lautet: Sich die Zeit nehmen und nötige Zeit geben. Wir müssen geduldig sein und unsere Erwartungen an jede und jeden einzelnen von Null an anpassen. Es geht um das Kennenlernen jedes einzelnen mit seinen Stärken und Schwächen, dem Finden von Motivationen und Interessen sowie den passgenauen Wegen und Möglichkeiten der Unterstützung. Es gibt da eine geflügelte Redewendung: 'Kennst du einen Autisten, kennst du EINEN Autisten'."

Das könnte Sie auch interessieren