Manchmal wacht Anneliese Mundhenk heute noch von ihren Träumen auf. Dann hat sie wieder die Bilder im Kopf, von damals, als 2017 ein Hochwasser Goslar und auch das Senioren- und Pflegezentrum Theresienhof überflutete. Rund 70 Senior:innen mussten damals evakuiert werden. „Vergessen werde ich es wohl nie“, sagt die 95-Jährige. Die Flut hat ihr Leben verändert – doch nicht nur zum Negativen. Es zeigt ihren Willen, das Beste aus dem zu machen, was sie hat.
Früher wohnt Mundhenk in einer Villa in Goslar. „Doch als ich hier einmal acht Marmorstufen runtergefallen bin, war ich nicht mehr so mobil“, erzählt sie. Da das Haus über keinen Fahrstuhl verfügt, kann sie nicht mehr in ihrer Wohnung bleiben.
“Wir müssen alle hier raus!”
Sie bekommt einen Platz im Theresienhof – und ist begeisert. „Ich hatte eine Traumwohnung. Da war wirklich viel Platz und ich habe mich sehr wohlgefühlt – bis das Wasser kam“, sagt sie. Der Keller und das Erdgeschoss laufen mit Wasser voll. In ihrer Wohnung, die sich in den oberen Stockwerken befindet, bleibt es trocken – doch der Strom ist weg. „Irgendwann kam jemand, und hat gesagt: Wir müssen alle hier raus“, erinnert sie sich. „Alle mussten zunächst einmal auf die Straße. Da standen wir dann im Regen. Das kann man sich gar nicht vorstellen!“

Schnell ist ein Dach über dem Kopf gefunden: Die naheliegende Gaststätte nimmt die Senior:innen kurzerhand auf, im großen Saal werden Pritschen zum Schlafen aufgestellt. Keine leichte Situation für die Bewohnenden, die ohnehin oft nicht mehr so fit sind, wie sie einst waren. Als klar wird, dass sie nicht in die Wohnungen zurückkönnen, wird nach Lösungen gesucht. Nach drei langen Tagen ist sie gefunden.
In Braunschweig wird 2017 gerade das ehemalige Krankenhaus St. Vinzenz zu einem Senioren- und Pflegezentrum umgebaut. Das Haus St. Vinzenz gehört ebenso wie der Theresienhof zur esn (Evangelische Stiftung Neuerkerode). Schnell werden Betten in die Zimmer gestellt, weitere Möbel wie Tische gibt es zunächst nicht. Außerdem müssen sich die Senior:innen die Zimmer teilen. „Doch ich war begeistert“, sagt Mundhenk. „Braunschweig – von der Stadt habe schon als Kind immer geträumt.“
“Doch ich war begeistert.”
Trotz der Umstände lebt Anneliese Mundhenk sich schnell ein. Nach und nach wird alles gemütlicher. Sie genießt ihre abendlichen Zigaretten auf der Terrasse mit Blick auf die Oker – und die fußläufige Nähe zur Innenstadt. Mundhenk liebt es, zu shoppen.

Auch in Goslar tut sich so einiges: Der Theresienhof bekommt einen Neubau. Als er fertig gestellt ist, ziehen die Senior:innen wieder zurück in den Harz. Alle sind froh, wieder zuhause zu sein – alle, bis auf eine. Frau Mundhenks große Wohnung im Theresienhof gibt es nicht mehr. Und während andere die ruhige, idyllische Lage genießen, vermisst sie die große Stadt.
Zu ihrem Glück ist Uschi Ballin, die Leitung des Theresienhofs, dafür bekannt, schnelle und pragmatische Lösungen zu finden. „Als ich gemerkt habe, dass sie das Haus St. Vinzenz vermisst, habe ich mit der dortigen Leitung telefoniert“, erzählt Ballin. „Schnell war klar, dass sie dort einen Platz bekommen kann.“
“Da sind auch ein paar Tränen geflossen.”
So zieht Mundhenk endgültig nach Braunschweig – und verlässt ihre langjährige Heimat Goslar. „Da sind auch ein paar Tränen geflossen“, erinnert sich die 95-Jährige. „Aber ich bekomme heute noch Besuch von Bekannten aus dem Harz. Dafür bin ich sehr dankbar.“ Auch Uschi Ballin besucht Mundhenk, wenn sie im Haus St. Vinzenz ist.

Ihr Weg hierher war ein auf und ab, ein Abenteuer, von dem sie nicht gedacht hätte, dass sie es in ihrem Alter noch erleben wird. Doch wenn sie abends ihre letzte Zigarette des Tages raucht und dabei auf die Oker schaut, weiß sie: Ich bin angekommen.