Als Martina Nabers Augen über den lichtdurchfluteten Flur und die weiten Räume der Neuerkeröder Tagesförderung (TGF) Sonnenschein wandern, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie freut sich hier zu sein, mit einem tollen Team und herzlichen Bürger:innen, in ihrem Bereich, als TGF-Koordinatorin.
Seit vergangenem Jahr ist sie für den im Erdgeschoss gelegenen Arbeitsbereich von „Sonne“, wie der Gebäudekomplex allgemein im Dorf genannt wird, verantwortlich. Personalführung, Gestaltungsspielräume und die Erfahrung eines neuen Betreuungsbereichs – diese und weitere Anforderungen für die Stelle der Koordinatorin motivierten sie, noch einmal etwas Neues für sich auszuprobieren, Fähigkeiten an sich zu entdecken und Erfahrungen mitzunehmen. Sie ging das Wagnis und den damit verbundenen Jobwechsel innerhalb der Neuerkeröder Wohnen und Betreuen GmbH (WuB) ein. „Ich bin so ein Typ Mensch, der gerne neue Herausforderungen sucht und auch mal ins kalte Wasser springt. Raus aus der Komfortzone“, erklärt Naber.
Beruflichen Methodenkoffer neu sortiert
Einen großen Erfahrungsschatz aus der Eingliederungshilfe (stationär und ambulant) bringt sie bereits mit: Elf Jahre war sie im Ambulant Betreuten Wohnen (ABW) tätig – von 2011 bis 2022 in Wolfenbüttel unter anderem im Haus am Anger. „Zusammen mit den Kolleg:innen durfte ich das neu eingerichtete Ambulant Betreute Wohnen mit teilstationärem Bereich in Wolfenbüttel und später in Braunschweig aufbauen. Das war anfangs eine ganz neue Herausforderung für mich, der ich mich gerne gestellt habe.“ In den elf Jahren unterstützte sie vornehmlich junge Klient:innen mit psychischen Beeinträchtigungen bei der Verselbständigung – begleitend, beratend und betreuend stand sie ihnen zur Seite. „Persönlich war das eine sehr erfüllende Zeit und meinen beruflichen Methodenkoffer konnte ich noch einmal grundlegend sortieren und Stück für Stück mit neuen Erfahrungen und Kompetenzen füllen“, blickt sie zurück.
Bereits seit Kindesalter mit Neuerkerode vertraut
Nun ist sie wieder zurück in Neuerkerode, an dem Ort, der ihr schon von Kindesbeinen an vertraut ist. „Mein Großvater war in der Gärtnerei angestellt und als Kind habe ich ihn und die Bürger:innen öfter bei der Arbeit auf den Feldern begleitet“, erinnert sie sich zurück. Als Jugendliche folgten verschiedene Praktika sowie ein Freiwilliges Soziales Jahr im Wohnbereich Lindenplatz. Lediglich für die Ausbildung verließ sie kurz mal die vertrauten Gefilde, um „eine soziale Ausbildung grundlegend für jede Art von Unterstützungsbedarfen zu absolvieren“. Als gelernte Erzieherin startete sie 2008 im Haus Sundern ihre ersten beruflichen Schritte in der WuB.
Tagesförderung: Gruppenstruktur und individuelle Bedürfnisse
Zurück in „Sonne“: Der täglich organisierte Morgenkreis mit den Klient:innen ist abgeschlossen und der Frühstückssnack steht bevor. Die TGF Sonnenschein in Neuerkerode betreut aktuell in zwei Gruppen insgesamt 27 geistig und/oder schwerstmehrfach behinderte Menschen. Einige davon sind nun mit dem Rollstuhl unterwegs in ihre Gruppen. Der Flur wird zum Nadelöhr, es staut sich. Das sorgt kurzfristig für Unmut und Spannungen, was mit ungeduldigem Gemurmel und lauterem Geschimpfe quittiert wird. Martina Naber und Fachschülerin Lena Hartung kommen zur Hilfe, um den kurzfristigen Stau zu ordnen und beruhigend zu unterstützen. Die Menschen der TGF Sonnenschein in Neuerkerode verbringen größtenteils ihren Vor- und Nachmittag gemeinsam in der Gruppe. Das ist Teil des Konzepts der Tagesförderung.
Es sieht vor, Klient:innen, die entweder im Rentenalter angelangt sind, oder nicht mehr bzw. (noch) nicht die Anforderungen für eine Arbeit in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung erfüllen, einen strukturgebenden und sinngebenden Tagesablauf zu bieten. Außerdem werden individuelle Fähigkeiten gefördert. Der Tagesablauf ist sehr unterschiedlich aufgebaut: Gesellschaftsspiele werden gespielt, man verbringt die Zeit mit Singen, Malen oder Musikhören. Zudem gibt es Bewegungs- und Kreativangebote, Aktionen mit der Musikpädagogik, wie etwa basale Stimulation oder Trommelübungen und Angebote zur sozialen Teilhabe. „Wir haben hier Menschen mit unterschiedlichsten, komplexen Beeinträchtigungen, die wir in einer gemeinschaftlichen Gruppenstruktur zusammenführen. Vieles machen wir gemeinsam, dennoch berücksichtigen wir auch jedes individuelle Bedürfnis“, fasst es Naber zusammen.
Über den nun wieder freien Flur geht sie weiter zu einem Einzelzimmer und klopft an die Tür. „Ja?“, antwortet es aus dem Raum, der nun betreten wird. Es läuft Musik im Hintergrund und ein junger Mann im Rollstuhl empfängt sie. Er heißt Marten Becker und ist großer Helene Fischer-Fan. In dem Zimmer hat er einen eigenen Rückzugsort, wenn ihm der Trubel in der Tagesförderung Sonnenschein in Neuerkerode zu viel wird. „Wie geht’s dir?“, erkundigt sich Naber und hockt sich neben ihn. Dann bespricht sie mit ihm den weiteren Tages- und Wochenablauf. "Am Freitag hast du um neun Uhr einen Termin bei der Physio", erinnert sie ihn.


Im Team pädagogisch und pflegerisch gut aufgestellt
Nach dem Mittag kümmert sich Mitarbeiter Andreas Wiedemann im Gruppenraum um zwei Bürgerinnen im Rollstuhl, die müde sind und sich hinlegen möchten. Dafür wurden besondere Matratzen angeschafft, die zur Dekubitusprophylaxe beitragen. Behutsam bettet er, mit Unterstützung einer Kollegin, eine der jungen Frauen aus dem Rollstuhl, die sich mit einem vergnügten Quiek-Geräusch bedankt. Martina Naber beobachtet die beiden. Die Anforderungen an alle Mitarbeitenden sind groß, dementsprechend sei ein guter Teamzusammenhalt wichtig, erzählt sie. „Ich bin froh, so ein sympathisches und heterogenes Team zu haben, das pädagogisch und pflegerisch gut aufgestellt ist.“
Dass sie nun eine Position und den Umgang mit Führungsverantwortung hat, das habe sie in den Anfangsmonaten in der Praxis erst lernen müssen. Hilfe gab es von ihrer Vorgesetzten: An Claudia Deichmann, der Leitung der Tagesförderung, könne sie sich gut orientieren. Der Austausch mit ihr sei hilfreich, kollegial und die Zusammenarbeit funktioniere sehr gut. Das gelte auch für den Austausch mit den weiteren TGF-Koordinator:innen – insgesamt gibt es neun. „Wir sind schon gut miteinander vernetzt, tauschen uns regelmäßig aus und geben uns gegenseitig Hilfestellung“, so Naber.
Personalverantwortung und Organisation lernen
Mittlerweile sitzt sie an ihrem Schreibtisch im Büro. Denn neben der Personalverantwortung gilt es, viele organisatorische Dinge zu regeln, die sich ihr in früheren Positionen noch nicht stellten. So ist der Standort der Neuerkeröder TGF Sonnenschein schon etwas in die Jahre gekommen, Modernisierungen sollen bald folgen, die mit dem Bau- und Liegenschaftsmanagement und der WuB-Geschäftsführung abgestimmt werden müssen. Mit Blick auf das neu anvisierte Konzept und der Integration einer neuen, dritten Gruppe in die TGF Sonnenschein, werden entsprechende Räumlichkeiten benötigt. Dass so viel Bewegung in der Tagesförderung herrscht – unter anderem hat die Wohnen und Betreuen acht TGF-Standorte in den vergangenen Jahren etabliert – resultiert unter anderem aus der Einführung des Bundesteilhabegesetztes (BTHG).
Dadurch sind die Erwartungen an die Einrichtungen auch in der Tagesförderung größer geworden. Das bewirkt nun, dass die TGF einen neuen, hervorgehobenen Stellenwert erhalten hat. „Die Bürger:innen verbringen mehr Zeit bei uns und sie selbst oder die Angehörigen wünschen sich eine größere Auswahl an Beschäftigungs- und Betreuungsmöglichkeiten“, erläutert die Koordinatorin. Und natürlich spielt da auch die eigene berufliche Motivation eine Rolle: Dem Standort Sonnenschein möchte sie ein neues, repräsentatives Profil geben, für das sie die Klient:innen und das Mitarbeiter-Team begeistern möchte. „Manchmal entsteht daraus eine ganz besondere Dynamik und dann ist das wie bei einem Mobile – eine Sache wird angestoßen und dann bewegen sich die anderen Teile des Ganzen mit“, sagt sie und dann huscht wieder ein Lächeln über ihr Gesicht.
„Ich bin froh, so ein sympathisches und heterogenes Team zu haben, das pädagogisch und pflegerisch gut aufgestellt ist.“
Martina Naber, Koordinatorin in der TGF Sonnenschein
Was ist eine Tagesförderung?
Die Tagesförderstätten in Neuerkerode erstrecken sich aktuell über acht Standorte. Bürger:innen haben hier die Möglichkeit, sich produktiv, nachhaltig, kreativ, sinnerfüllend und sinnstiftend zu beschäftigen. Kerngedanken sind lebensbegleitendes Lehren und Lernen, um Menschen zu befähigen, ihren Wunsch nach Bildung, Teilhabe und selbstbestimmter Lebensführung in vielen Facetten erleb- und erfahrbar zu machen. Dabei wird in besonderer Weise Wert und Augenmerk auf das Thema Arbeit und Bildung und die damit verbundene berufliche Förderung gelegt. Arbeit und Bildung stehen in den Tagesförderstätten in einem engen Sinnzusammenhang, nicht zuletzt deshalb, weil die Übergänge in die Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) durchlässig ermöglicht sowie das Recht auf Arbeit und Bildung auch für Menschen mit hohem Assistenz- und Unterstützungsbedarf durch- und umgesetzt werden sollen.