Symbolbild

Wenn die Kontrolle verloren geht

Schnäppchenjagd am heutigen Black Friday – Aber was passiert, wenn jemand immer häufiger Dinge kauft, deutlich mehr als geplant oder etwas, das gar nicht gebraucht wird? Ein Interview zum Thema Kaufsucht mit Christina Rüttgens, Psychologische Psychotherapeutin, die in der Reha Tagesklinik für Abhängigkeitserkrankungen im Braunschweiger Reha-Zentrum St. Leonhard arbeitet.

Konsum ist Teil unsere Kultur - Welche Meinung haben Sie als Psychologische Psychotherapeutin, die im Suchtbereich tätig ist, zum Black Friday?
Wir sind täglich in irgendeiner Form mit Konsum konfrontiert. Wichtig ist ein verantwortungsvoller Umgang damit. Für Menschen mit einer Kaufsucht können solche Aktionstage gefährlich werden und das problematische Verhalten verstärken. Kritischer als Aktionen wie den Black Friday ist aus meiner Sicht aber, dass schon jungen Menschen z.B. durch personalisierte Werbung über soziale Medien ständig suggeriert wird, dass Konsum Teil eines glücklichen Lebens ausmacht oder mit Erfolg assoziiert wird.

Was passiert aus psychologischer Sicht beim Kaufen?
Wenn wir etwas kaufen, aktiviert das unser Belohnungszentrum im Gehirn. Allein die Aussicht auf das Kaufen führt zu einer Ausschüttung von Dopamin, sodass eine positive Verknüpfung zwischen dem Kaufen und einem Gefühl von Glück entsteht. Bei Menschen mit einer Kaufsucht wird dieser „Kick“ immer wieder gesucht, sodass es irgendwann nicht mehr um den Besitz der Ware, sondern um den Akt des Kaufens geht. Selbstbelohnung kann dann eventuell nur noch über das Kaufen stattfinden.

Christina Rüttgens, Psychologische Psychotherapeutin, die in der Reha Tagesklinik für Abhängigkeitserkrankungen

Verschärft Corona die Entstehung von Kaufsucht, weil viel mehr online bestellt wird?
Viele Patiente:innen, die z.B. wegen Alkohol-oder Drogenabhängigkeit zu uns kommen, berichten, dass Corona die Sucht verstärkt hat. Die Gründe sind vielfältig: Existenzängste, soziale Isolation, mehr Druck durch Homeoffice, fehlende Struktur oder ein Mangel an Selbstbelohnung über andere Aktivitäten, wie z.B. Sport. Wenn man hauptsächlich zuhause ist, gibt es weniger Kontrolle etwa durch Kolleg:innen oder den Arbeitgeber, die mitbekommen könnten, dass etwas nicht stimmt. Das alles können auch Gründe sein, die das Kaufverhalten verstärken. Das Fatale beim Online Kauf: es gibt keine Schließzeiten. Bestellen kann man 24 Stunden lang, sieben Tage die Woche – meistens ohne direkt mitzubekommen, wie das Geld vom Konto abgebucht wird.

Kaufsucht ist derzeit keine anerkannte Krankheit. Welche Probleme ergeben sich daraus für eine Behandlung?
Es wird diskutiert, ob Kaufsucht unter die Abhängigkeitserkrankungen wie beispielsweise eine Alkoholabhängigkeit fallen sollte, oder ob es sich dabei eher um eine Impulskontrollstörung oder eine Zwangserkrankung handelt. Was bedeutet das derzeit für Betroffene? Einerseits kann der Eindruck entstehen, dass ihre Erkrankung möglicherweise nicht ernst genug genommen wird, andererseits entwickeln Betroffene eventuell selbst kein Bewusstsein dafür, dass es sich überhaupt um eine Erkrankung handelt, die auch professionell behandelt werden sollte. Sie kommen dann vielleicht mit anderen psychischen Problemen in Behandlung, die mit einer Kaufproblematik zusammen auftreten können, wie einer Depression. Es besteht die Gefahr, dass die Kaufsucht untergeht, wenn nicht gezielt danach gefragt wird. Es fehlt auch an Spezialist:innen, Forschung nach gezielten Behandlungen oder schlichtweg Therapieangeboten, die von der Krankenkasse übernommen werden.

Wer ist besonders gefährdet?
Es kann prinzipiell jeden Menschen treffen, ungeachtet von Alter oder Einkommen. Im Verhältnis sind mehr Frauen betroffen. Eine schon bestehende psychische Störung könnte anfälliger machen, wenn das Kaufen ausgleichend betrieben wird. Da sich das Kaufen stark in den Online-Handel verlagert hat, sind theoretisch Menschen anfällig, die das Internet viel nutzen, also die jüngere Generation. Schätzungen zufolge sind etwa fünf Prozent der Menschen kaufsüchtig oder gefährdet. Es gibt sicher viele Menschen, die mit ihrer Sucht unauffällig bleiben und nicht in Statistiken erfasst werden. Es scheint auch Menschen zu geben, deren Belohnungssystem besonders stark auf das Kaufen reagiert, wohingegen die Impulskontrolle eingeschränkt ist.

Welche Anzeichen gibt es für eine Kaufsucht?
Das eigene Kaufverhalten sollte hinterfragt werden: Kaufe ich ständig, nur, weil Ware reduziert ist, oder nehme immer mehr mit nach Hause, als eigentlich geplant war? Tröste ich mich mit dem Kaufen über etwas hinweg und nutze es, um meine Gefühle zu regulieren? Einige Kriterien der Abhängigkeit können auch hier greifen: Es muss immer mehr und häufiger gekauft werden, um den gewünschten „Kick“ zu erhalten, andere Aktivitäten werden zugunsten des Kaufens vernachlässigt, es besteht ein starker Drang zu kaufen, dem häufig nachgegeben wird oder es gibt Entzugserscheinungen, wenn nicht gekauft wird. Sicherlich haben viele Menschen schon einmal Impulskäufe getätigt. Problematisch wird es, wenn die Kontrolle verloren geht und man nicht aufhören kann, obwohl schon negative Konsequenzen eingetreten sind.

Wo finden Betroffene Hilfe?
Eine erste Anlaufstelle kann der Hausarzt sein, der auch ambulante Behandlung auf den Weg bringen kann. Bei der Vermittlung geeigneter Therapeut:innen kann die Krankenkasse helfen. Auch im stationären Bereich haben sich einige Klinken auf die Behandlung von Impulskontrollstörungen spezialisiert. Zusätzlich können Suchtberatungsstellen oder der psychosoziale Krisendienst Unterstützung bieten, ebenso wie die Telefonseelsorge. Betroffene können auch nach Selbsthilfegruppen in ihrer Nähe suchen. Hier kann die Seite www.nakos.de helfen, mit Schlagwörtern eine geeignete Gruppe oder weitere Informationen zu finden.

Faktenkasten

Was kennzeichnet eine Kaufsucht?

  • Eine Kaufsucht ist eine psychische Erkrankung, die sich durch wiederkehrendes, übertriebenes Kaufen von Gütern und Dienstleistungen auszeichnet.
  • Es besteht ein starker Drang, dem Kaufen immer wieder nachtzugehen. Die Gedanken kreisen ständig um das Thema.
  • Die Erkrankung kann finanzielle, soziale oder sogar strafrechtliche Probleme nach sich ziehen.
  • Wie sich das Kaufverhalten individuell äußert, kann unterschiedlich ausfallen: Einige Betroffene kaufen nur neue Ware, andere sind auf der Jagd nach Sonderangeboten, wieder andere kaufen vor allem online. Der Betroffene verliert allmählich die Kontrolle über sein Kaufverhalten, kauft immer häufiger, deutlich mehr als geplant oder etwas, das gar nicht gebraucht wird.

Wie entsteht Kaufsucht?
Kaufsucht beginnt häufig als Gewohnheit. Betroffene kaufen beispielsweise immer dann, wenn sie frustriert sind oder mit schwierigen Gefühlen umgehen müssen. Kurzfristig funktioniert das auch: man fühlt sich besser. Es muss aber immer wieder gekauft werden, um diesen Effekt aufrecht zu erhalten. Der Übergang zur Sucht kann hier fließend sein und lange unbemerkt bleiben, zumal viele Menschen sich schämen und verheimlichen, wie viel sie wirklich kaufen.

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