Über die Herausforderung von Nähe und Distanz

Nähe, Vertrautheit und Intimität sind grundlegende Erfahrungen und Bedürfnisse des Menschen. In Zeiten der Corona-Pandemie mit den teilweise erhobenen Kontakt- und Betretungsverboten sind speziell diese Bedürfnisse immer wieder eine Herausforderung. Die Bürger:innen im inklusiven Dorf Neuerkerode, deren Angehörigen sowie die Mitarbeitenden waren und sind dabei Extremsituationen ausgesetzt, dennoch konnte durch großes Engagement, vieles aufrecht erhalten oder – zumindest in anderer Form – ersetzt werden. Hier erzählen Bürger:innen und deren Angehörige, Neuerkeröder Paare und Mitarbeitende, wie es ihnen in den vergangenen Monaten ergangen ist, wie sie die Belastungen und Herausforderungen gemeistert haben und in Zeiten der Not neue Wege gefunden haben.

Wenn Andreas Rasch seinen Sohn Jan-Niklas zur Fahrt in die alte Heimat abholt, dann späht der junge Mann schon gespannt am Fenster nach dem Auto des Papas. So oft es geht kommt Rasch nach Neuerkerode, um seinen Sohn zu Kurzbesuchen oder Urlauben nach Osnabrück mitzunehmen oder mit ihm und seiner Schwester Lisa gemeinsam Zeit zu verbringen. Der 28-jährige Jan-Niklas ist schon Tage vorher voller Vorfreude – die Kontakte zu seiner Familie sind ihm sehr wichtig. Seit zehn Jahren lebt Jan-Niklas in Neuerkerode, seit vergangenem Jahr hat er sein Zimmer im Haus Gänsewiese bezogen – zur Anfangsphase der Corona-Pandemie. Dann folgten Lockdown und Betretungsverbot – die regelmäßigen Besuche der Familie fielen erst einmal aus. „Diese Phase war sehr schwer. Wir wollten ihn gerne sehen und er uns, aber in dieser Situation war das nicht möglich und wir fühlten uns zunächst nur hilflos“, erinnert sich Andreas Rasch. Im ersten Schritt habe er Päckchen mit Süßigkeiten und anderen Dingen für seinen Sohn und die Wohngruppe geschickt. Für Jan-Niklas druckte er Fotos von Ausflügen, Besuchen und Urlauben aus und schickte sie – mitsamt der heißgeliebten Wohnmobilzeitschrift – nach Neuerkerode. „Aus den gesammelten Fotos ist mittlerweile eine Mappe entstanden und wenn Jan-Niklas mal schlechte Laune hat, muntern ihn die Bilder sofort wieder auf“, freut sich Rasch.

 

 

Wohnen und Betreuen engagiert sich sehr für Bürger:innen und Angehörige

In der Coronazeit hat sich die Neuerkeröder Wohnen und Betreuen GmbH sehr engagiert, um viele Aktivitäten aufrecht zu erhalten – soweit es die Hygienemaßnahmen und geltenden Regelungen zuließen. Und es war einiges möglich: Veranstaltungen wie etwa das Burgeressen, Konzerte der Musikpädagogik vor den Wohngruppen, das Verteilen von Adventskalendern oder die Online-Gottesdienste sind nur Teil einer Fülle von Aktionen gewesen. Auf den Wohngruppen setzten sich die Mitarbeitenden – teilweise auch nach Dienstschluss dafür ein, die Kontakte zwischen Bürger:innen und Angehörigen aufrecht zu erhalten. „Die neu entstandenen Wohngruppen-Newsletter, Briefe und Fotos sowie (Video-)Telefonate waren eine tolle Hilfe und ein schöner Überblick über die Aktivitäten unseres Sohnes und der Wohngruppe. Es hat uns sehr beruhigt zu sehen und zu hören, dass es ihm gut geht“, erzählt Rasch. Manchmal habe einfach schon ein aktuelles Bild aus der Wohngruppe geholfen, um über das immer wieder aufkommende Gefühl des Getrenntseins hinweg zu trösten.

Die Gefühlslage kennt Familie Neumann, mit Mutter Bruni, Vater Detlef und Tochter Josephine, die sie liebevoll Josi nennen, nur zu gut. Josephine (27 Jahre alt) lebt seit 2013 in Neuerkerode, dennoch verbringt sie in regelmäßigen Abständen Zeit in ihrem alten Zuhause in Magdeburg. „Josephine ist sehr kontaktfreudig und wissbegierig. Das Besuchsverbot war für sie entsprechend schlimm“, berichtet Bruni Neumann. Um den Kontakt aufrecht zu erhalten, haben sie in dieser Zeit andere Wege gefunden – so ist ein besonderes Ritual entstanden: „Jeden Tag um 19 Uhr rufe ich Josi an. Wir schauen zusammen ‚Das perfekte Dinner‘ im Fernsehen – sie in ihrem Zimmer in Neuerkerode und ich in Magdeburg – und dann kommentieren wir alles“, erzählt sie. Auch wenn Josephine nicht so gut sprechen kann, helfe es beiden, sich einfach nur zu hören und dadurch irgendwie beieinander zu sein. Sehr wichtig ist in dem Fall die Bildsprache: So haben Bruni Neumann und ihr Mann Detlef für die Tochter Videos gedreht, die sie sich auf dem Wohngruppen-Smartphone gemeinsam mit den Betreuern anschauen kann. „Die Mitarbeitenden haben sich sehr bemüht und uns im Gegenzug Fotos von Josi und ihren Aktivitäten geschickt“, konstatiert Bruni Neumann. Besonders gefreut habe sie die Karte zum Muttertag – mit einem tollen mit einem Porträtfoto von Josephine.

Das lange Getrenntsein sei trotzdem keine einfache Zeit gewesen und habe Spuren hinterlassen. Als Josephine nach dem ersten Lockdown wieder zu den Eltern fahren durfte, sei sie verunsichert gewesen. „Sie konnte es zunächst nicht einschätzen, ob sie uns wegen Corona besuchen durfte oder nicht. Aber dann war sie überglücklich und sagte, dass sie froh ist, endlich mal wieder bei Mama und Papa zu sein“.

Bruni Neumann mit Tochter Josephine
Josephine Neumann
Jan-Niklas und Andreas Rasch

Es ist eine herausfordernde Zeit für uns alle, aber wir versuchen alles, um Bürgerinnen und Bürgern, ihren Angehörigen sowie unseren Mitarbeitenden mit kleinen Maßnahmen ein bisschen Erleichterung zu verschaffen. Bisher ist es uns glücklicherweise gelungen, den Spagat zwischen Sicherheit und Begegnung sehr gut für alle zu meistern. Ich bin zuversichtlich, dass es auch so bleibt und wünsche uns allen, dass wir gesund bleiben.


Marcus Eckhoff, Geschäftsführer Neuerkeröder Wohnen und Betreuen GmbH

Die bunte Tüte des Lebens

Auch in Zeiten von Corona hören Beziehungen unter den Bürger:innen nicht einfach auf, mehr noch: Manche entstehen neu, bestehende Beziehungen wollen erhalten bleiben - trotz Kontaktverbots. Saskia Brauns ist als Einzel- und Paarberaterin sowie Vertrauensperson für die Erwachsenenbildung der Wohnen und Betreuen GmbH tätig, berät nicht nur Paare von jung bis erfahren, sondern gibt auch mal dem einen oder anderen Single-Tipps.

Manche Dinge sind schwer verdaulich und andere einfach nur wunderschön

Insgesamt geht es viel um die Zukunftsplanung, etwa das Zusammenziehen, aber auch um Konflikte wie Eifersucht, Abgrenzung oder einen angemessen digitalen Umgang mit der Beziehung. „In den Gesprächen öffnet sich dann die bunte Tüte des Lebens“, so Brauns. Da seien manche Dinge schwer verdaulich, andere einfach nur wunderschön. „Ich habe einen Weg für mich gefunden, zu gewissen Dingen Abstand zu gewinnen und es gut zu verarbeiten“, sagt sie. Überwiegend gebe es zahlreiche tolle Momente, aus denen heraus zum Teil enge Beziehungen zu den Bürgern entstehen. „Bei dem Thema Beziehung bin ich manchmal die erste Vertrauensperson, noch vor den Eltern, Freunden oder der Betreuung. Das ehrt mich sehr, ist aber auch eine große Verantwortung“, weiß sie um die Bedeutung.

Ein besonderes Training brauchte Erik Grothstück nicht, als er seine Verlobte Kristina Huse ansprach. Erik ist von Natur aus ein aufgeschlossener Typ, immer mit einem lustigen Spruch auf den Lippen. Ein wenig weiche Knie habe er trotzdem gehabt. Beim Ü-30-Club im Dorfgemeinschaftshaus haben sich die Blicke der beiden das erste Mal gekreuzt und schon sei es um ihn geschehen gewesen. „Er erzählt mir immer, dass er Herzchen in den Augen hatte, als er mich das erste Mal gesehen hat“, sagt seine Verlobte. Wenige Zeit später sei er einfach in ihre Wohngruppe gekommen und habe ihr gesagt, dass er sie mag. Seit Anfang 2019 sind sie nun ein Paar, im September 2019 haben sie sich verlobt. Beide Familien haben sich sehr darüber gefreut, berichten sie. Erik und Kristina leben in unterschiedlichen Wohngruppen. Sie haben aber Tage vereinbart, an denen sie etwas gemeinsam unternehmen. Immer montags gehen sie gemeinsam im Nachbarort Sickte einkaufen, donnerstags treffen sie sich zum Cappuccinotrinken im Wabeweg. Beide verbindet auch die Liebe zum Fußball. „Wenn wir am Wochenende zusammen übernachten dürfen, schauen wir uns die Sportschau an“, erzählt Erik freudestrahlend.

"Sehr froh, dass wir trotz der Umstände so viele Beziehungen erhalten konnten."

Daniela Bierdemann und Hans-Dieter Schulze gehören zu den Dauerbrennern unter den Pärchen in Neuerkerode. Seit 2005 sind die beiden verlobt. Kennengelernt haben sie sich bei der Arbeit in der Zoar-Werkstatt. „Hans-Dieter ließ sich über einen Mitarbeiter bei mir vorstellen. Wir haben uns damals in den Pausen getroffen und irgendwann am alten Kiosk in Neuerkerode auf einen Kaffee verabredet. Von dem Moment an waren wir ein festes Paar“,  erzählen sie. Später haben sie gemeinsam in der grünen Baracke gearbeitet und Telefone zusammengesetzt. „Du hast sie zusammengesetzt und ich habe sie geprüft“, sagt Schulze und blickt lächelnd zu ihr herüber. Schulze wohnt in Braunschweig, Bierdemann im Zoar-Haus in Neuerkerode, das machte Begegnungen in den Anfängen der Corona-Zeit mehr als schwierig. „Wir haben uns nur alle zwei Wochen sehen können, weil Hans-Dieter das Dorf nicht betreten durfte. Deshalb haben wir uns in Neuerkerode an der Bushaltestelle getroffen“, blickt Bierdemann zurück. „Ich war so froh, dich zu sehen. Und weißt du noch, ich habe dir immer deinen Beutel mitgebracht“, erzählt Schulze und seine Verlobte offenbart, was darin überbracht wurde: „Er hat mir meine Lieblingsklamotten gewaschen, weil ich die nicht zur Wäscherei geben wollte.“

Die Corona-Zeit mit dem anfangs für Neuerkerode angeordneten Betretungsverbot und der notwendigen Trennung der Wohnbereiche war für viele Paare eine große Herausforderung, berichtet Brauns. „Da gab es enormen Leidensdruck, mit Liebeskummer und vielen negativen Gefühlen. Nicht selten sind daran auch Beziehungen zerbrochen.“ Sie habe versucht, im Dorf coronakonforme Treffen zu arrangieren, da manche Bürgern nicht über ein eigenes Telefon verfügen und das persönliche Treffen daher umso wichtiger gewesen sei. Die Tatsache, dass man im selben Ort wohne und dennoch getrennt voneinander leben müsse, sei einfach nur traurig gewesen. „Im Gegenzug macht es mich sehr froh, dass wir trotz der Umstände so viele Beziehungen erhalten konnten“, sagt Brauns und blickt dabei zu den glücklichen Pärchen hinüber.

Daniela Bierdemann und Hans-Dieter Schulze
Erik Grothstück und Kristina Huse
Saskia Brauns

+++ Zur besseren Lesbarkeit wird auf die Verwendung der Sprachformen weiblich und divers (w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter. +++

Das könnte Sie auch interessieren